Die Biochemische Heilweise nach Dr. Wilhelm Heinrich Schüßler

Der Gedanke von der »Lebenskraft« hatte lange Zeit Chemie, Physiologie und Medizin bestimmt und bildete das Fundament des »Vitalismus«, einer Geisteshaltung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Demnach kam es auf die Stärkung der Lebenskraft an, damit ein Patient gesunden konnte. Die Vorstellung, die immaterielle »vis vitalis« durch ebenfalls immaterielle Heilkräfte beeinflussen zu können, ist auch noch beim homöopathischen Heilsystem erkennbar. Bis dahin hatte die »Säftelehre (Humoralpathologie)« als Erklärungsmodell für Krankheiten gegolten: Man vermutete, dass alle Krankheiten aufgrund einer fehlerhaften Zusammensetzung des Blutes und anderer Körpersäfte entstehen sowie einer gewissen Anhäufung von schädlichen Stoffen im Körper. Man versuchte, durch Ausleitung, d.h. Aderlass, Schröpfen und künstlich hervorgerufenen Durchfall und Erbrechen, die Krankheiten zu heilen und die Zusammensetzung der Säfte wieder zu ordnen.

In der Folgezeit sollten einige bahnbrechende Entdeckungen dieses Bild stark verändern. Die Biochemische Heilweise nach Dr. Wilhelm Heinrich Schüßler

Dr. Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der klassischen Homöopathie, kam nach einem Selbstversuch zu dem Schluss, dass Chinarinde die Malaria deshalb heile, da sie bei einem Gesunden die Symptome hervorrufe, an denen ein Kranker leide. Damit war der Grundgedanke der Homöopathie geboren.

Nach vielen weiteren Tests hat Hahnemann daraus die Ähnlichkeitsregel formuliert: »Ähnliches möge durch Ähnliches geheilt werden« (Similia similibus curentur). In der Homöopathie werden also Mittel, die bei einem Gesunden bestimmte Symptome auslösen, zur Behandlung eben dieser Symptome beim Kranken eingesetzt.

Schon Hahnemann erkannte, dass Sprache und Begrifflichkeit mit vielen Vorstellungen verbunden sind. So lag es nahe, dass »Verdünnung« der Ursubstanz gleichgesetzt wurde mit weniger Wirkung. Da in der Homöopathie jedoch genau das Gegenteil der Fall war, dass nämlich die Verdünnung die Wirksamkeit eines Mittels vervielfachte bzw. potenzierte, wählte er die Begriffe »Po tenzierung« für die feinstoffliche Aufbereitung der homöopathischen Mittel.

Justus Freiherr von Liebig (1803–1873), der als der bedeutendste Chemiker in Deutschland galt, gelangte aufgrund seiner Forschungen zu der Überzeugung, dass Pflanzen dem Boden Mineralstoffe entziehen und diese in einem chemischen Prozess in organische Stoffe umwandeln. Wollte man nun die Wachstumsbedingungen einer Pflanze verbessern, müsste man ihr diese anorganischen Mineralstoffe im richtigen Verhältnis zuführen. Mit dieser Erkenntnis legte Liebig den Grundstein für die Entwicklung und Anwendung des Kunstdüngers.

Doch von Liebig ging weiter, indem er untersuchte, was im Körper von Tieren geschieht, die Pflanzen fressen. Er gelangte zu der Überzeugung, dass die Umwandlung der Stoffe auch hier eine chemische Reaktion sein müsse.

Mit seiner 1840 veröffentlichten These »Den Menschen und Tieren bieten pflanzliche Organismen, also organische Verbindungen, die Mittel zu ihrer Ernährung und Erhaltung. Die Quellen der Nahrung der Pflanzen liefert dagegen ausschließlich die anorganische Natur« schuf von Liebig erstmals eine Verbindung von den Mineralien zum Menschen, wie wir sie heute in vielen Bereichen unter dem Begriff »Nahrungskette« kennen: Pflanzen nehmen die Mineralien aus dem Boden auf und verwandeln sie in einem chemischen Prozess in Pflanzenbestandteile. Da Menschen und Tiere diese Pflanzen über die Nahrung zu sich nehmen, essen sie zwangsläufig diese Mineralien. Daraus ist wiederum zu schließen, dass auch Menschen Mineralien benötigen, um gesund zu bleiben.

Ein wichtiger Teil dieses Werkes war die Formulierung des »Gesetz des Minimums«. Es besagt, dass jenes Element, das in geringster Menge vorhanden ist, das Pflanzenwachstum begrenzt. Erst wenn alle Elemente in ausreichender Menge vorhanden sind, ist ein normales Wachstum der Pflanzen möglich.

Dieses »Wachstumsprinzip« nach von Liebig ist auch auf den Menschen übertragbar. Fehlt ein Mineralstoff, so kann der Mensch seine volle Vitalität nicht entfalten. Je stärker der Bedarf an einem Mineralstoff, umso wichtiger wird es, diesen einen Mineralstoff ausreichend in einer entsprechend hohen Dosierung zu geben. Fehlen mehrere Mineralstoffe, müssen diese nach Bedarf in einem ausgewogenen Verhältnis gleichzeitig gegeben werden.

Der Niederländer Jacob Moleschott (1822-1893) lehrte und forschte über biochemische Vorgänge, die in einer Zelle und im Körper ablaufen. Letztendlich bestätigten seine Forschungsarbeiten, was von Liebig bereits hergeleitet und vermutet hatte.

»Es lässt sich … nicht mehr bestreiten, dass Stoffe, die bei der Verbrennung zurückbleiben, die so genannten Aschenbestandteile, zu der inneren Zusammensetzung und damit zu der formgebenden und artbedingten Grundlage der Gewebe ebenso wesentlich gehören wie die Stoffe, welche bei der Verbrennung verflüchtigen.«

Rudolf Virchow (1821-1902) gilt bis heute als einer der bedeutendsten Mediziner Deutschlands und Wegbereiter der modernen Medizin.

Virchow konnte beweisen, dass die Zelle die kleinste lebende Einheit des Organismus ist, und dass nicht der ganze Körper erkrankt, sondern immer nur einzelne Zellen oder Zellgruppen. Mit der Erkenntnis »Das Wesen der Krankheit ist die pathogen veränderte Zelle« veränderte Virchow das medizinische Denken und Handeln grundlegend. Von nun an konnte man nach Krankheitsursachen und Krankheitsherden suchen, indem Zellen unter dem Mikroskop analysiert wurden. Und man konnte beginnen, Strategien und Medikamente zu entwickeln, die in der Lage sind, die kranken (pathogenen) Zellen zu heilen. Damit war die Grundlage gelegt, Erkrankungen objektiv zu erfassen und gezielt zu behandeln.

Dr. Wilhelm Heinrich Schüßler wurde am 21. August 1821 in Bad Zwischenahn geboren. Ab 1858 arbeitete er als erfolgreicher homöopathischer Arzt und verfasste in den folgenden Jahren zahlreiche Schriften über die Homöopathie. Er wurde 76 Jahre alt und starb am 30. März 1898 bei Oldenburg an den Folgen eines Schlaganfalls.

Um 1870 kam es jedoch zu einer Wende in der Arbeit Dr. Schüßlers, nachdem er von den aufsehenerregenden Studien Prof. Jacob Moleschotts erfuhr, die sich auf das Gebiet der Zellenforschung erstreckten. Hier bekam Dr. Schüßler erstmals eine wissenschaftliche Bestätigung für seine langgehegten Vermutungen, dass Störungen im Mikroorganismus des menschlichen Körpers durch Mineralstoffmängel ausgelöst werden.

Obwohl Dr. Schüßler in langjähriger Praxis viele großartige Erfolge mit der Homöopathie verzeichnen konnte, war er mit dieser Therapieform nicht so ganz glücklich. Es störte ihn hierbei vor allem eine gewisse Regellosigkeit, welche die wirkungsvolle Homöopathie immer komplizierter machte. In seinem Buch »Eine abgekürzte Therapie« schreibt Dr. Schüßler dazu: »Therapien, welche so lockere Grenzen haben, dass sie zu jeder Zeit neue Arzneimittel aufnehmen oder alte Mittel beibehalten oder verwerfen dürfen, können nicht diejenige Sicherheit gewähren, welche zum Nutzen der Kranken und im Interesse der Wissenschaft notwendig ist.« Es dürfte klar sein, dass Dr. Schüßler mit dieser Aussage bei seinen homöopathischen Kollegen nicht auf Gegenliebe stieß.

Immer stärker offenbarten sich Dr. Schüßler während seiner Forschungen Klarheit und Einfachheit aller Gesetzmäßigkeiten in der ganzen Natur. Dadurch angetrieben suchte er mit immer größer werdendem Tatendrang nach einer Heilweise, die zum einen feste Grenzen hat und zum anderen nicht ständiger Erweiterung bedarf.

Der Physiologe Dr. Gustav von Bunge gab Dr. Schüßler dann die entscheidenden Hinweise, welche der unzähligen Mineralstoffverbindungen in die engere Wahl kommen. Er fand in den Aschenbestandteilen, die bei Verbrennung menschlichen Gewebes übrig blieben, immer dieselben Mineralstoffe vor. So kristallisierten sich anfangs 12 Salze heraus, die aber im Laufe der Forschungen Bunges und Dr. Schüßlers auf 11 verringert wurden, die er Funktionsmittel nannte. Diese Funktionsmittel reichen nach den Erkenntnissen Dr. Schüßlers vollkommen aus, um alle Krankheiten zu heilen, die überhaupt durch Einnahme innerlicher Mittel heilbar sind.

Dr. Schüßler veröffentlichte 1873 seine ersten Forschungsergebnisse über diese neue, biochemische Heilweise.

Damit hat Dr. Schüßler, der von Justus Freiherr von Liebigs Arbeiten so fasziniert und überzeugt war, dessen Erkenntnisse in seiner ärztlichen Tätigkeit umgesetzt. »Für die Landwirtschaft haben die anorganischen Stoffe der Pflanzen durch die Agrikulturchemie bereits ihre Verwertung gefunden. Ich habe es unternommen, die Chemie der Gewebe des animalischen Organismus auf das therapeutische Gebiet zu übertragen«, so Dr. Schüßler 1875 in seiner Schrift »Die anorganischen Gewebebildner«.

Um eine optimale Wirkung zu erzielen, verabreichte Dr. Schüßler die einzelnen Salze in Molekularform. Die Herstellung erfolgte nach dem homöopathischen Verreibungsverfahren, das die Mineralsalze zellgängig macht.

Der Unterschied liegt darin, dass Homöopathie vom Grundsatz her eher körperfremde Stoffe verwendet (oftmals sogar Giftstoffe), Biochemie aber nur körpereigene Bau- und Betriebsstoffe. Daher spricht man bei der Biochemie von einer »Befriedigungsheilweise«. Dr. Schüßler sagte dazu: »Durch mein Heilverfahren werden Störungen, welche der Bewegung der Moleküle der unorganischen Stoffe des menschlichen Organismus entstanden sind, mittels homogener Stoffe direkt ausgeglichen, während die Homöopathie ihre Heilzwecke mittels heterogener Stoffe indirekt erreicht«.

Wie Hahnemann hatte auch Dr. Schüßler das Problem mit der Begrifflichkeit. Einerseits fühlte er sich der Homöopathie verbunden und griff auf deren Erkenntnisse zurück, andererseits war seine Heilmethode eine gänzlich andere als die Homöopathie. Seine Behandlungsmethode baute auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen der chemischen Zusammensetzung und der chemischen Abläufe im Körper auf sowie auf der Erkenntnis, dass die im Körper vorkommenden Mineralsalze chemische Prozesse in und an den Zellen steuern und beeinflussen. Entsprechend nannte Dr. Schüßler seine Heilmethode »Biochemie«, die Chemie des Lebens (griechisch: bios = Leben). Die von Dr. Schüßler erfundene »Biochemie« ist jedoch nicht mit der Wissenschaftsdisziplin Biochemie zu verwechseln.

In seinem Werk von 1878 »Eine abgekürzte Therapie« schrieb er: »Ich habe alles, durch Theorie und Praxis über die Molekularwirkung der von mir ermittelten Salze in ein System gebracht, und meiner Heilmethode den Namen Biochemie gegeben. Die Biochemie ist mit der Homöopathie nicht identisch«. Weiter heißt es: »Wer von kleinen Gaben hört, denkt gewöhnlich sofort an Homöopathie. Mein Heilverfahren ist aber kein homöopathisches, denn es gründet sich nicht auf das Ähnlichkeitsprinzip, sondern auf die physiologischbiochemischen Vorgänge, welche sich im menschlichen Organismus vollziehen«.

Während Dr. Hahnemann mit hoher Potenzierung bis zu D30 arbeitete, hat Dr. Schüßler die Potenzierungen der Salze auf maximal D12 festgelegt, wobei in den meisten Fällen die Potenzierung bei D6 liegt. Nach Schüßler werden Patienten Funktionsmittel zugeführt, um damit den Mineralstoffmangel auszugleichen. Ein weiterer Unterschied besteht in der Dosierung. In der Homöopathie wird oft über einen langen Zeitraum mit nur täglich wenigen Globuli oder Tabletten therapiert, wohingegen in der Biochemie auch bis zu 20 Tabletten in der Stunde eine normale Dosierung darstellen.

Dr. Schüßlers Lehre verbreitet sich massenhaft, vor allem über vereinsartig or ganisierte Laienverbände. 1890 gründet ein Schüßler-Patient den »Biochemischen Bund«, der 1928 mit 180.000 Anhängern mehr Mitglieder hat als der Deutsche Turnerbund. Von Schulmedizinern und Homöopathen wurde Dr. Schüßlers Verfahren nie akzeptiert; klinische Studien, die den Kriterien der Medizin standhalten, fehlen bis heute. Seine Lehre beruht auf positiven Erfahrungsberichten, nicht auf einem wissenschaftlichen Fundament.