Vom Ungleichgewicht der Körpersäfte
Die Theorie von Störungen im Säftegleichgewicht, die zur Krankheit führen, war früher keine außergewöhnliche Theorie in der Medizin. Und bereits in der mittelalterlichen Medizin gab es Parallelen zu Schüßlers Gedanken. Man sprach vom Ungleichgewicht der Körpersäfte, und damit meinte man eine Störung im inneren Milieu. Ist das Gleichgewicht gestört, kommt es zur Krankheit. Methoden, die das gestörte Säfteverhältnis wieder ins Lot brachten, waren Aderlass, Schröpfen, künstlich erzeugtes Erbrechen und Durchfall. Manche Verfahren freilich wurden derart übertrieben, dass sie stark in die Kritik gerieten und damit auch die mittelalterliche Säftelehre.
Mineralstoffe die wichtigsten Nährstoffe
Erst viel später, nach dem Tod Dr. Schüßlers, entdeckte die Wissenschaft die wahre Bedeutung der Körpersäfte. Und sie kam zu dem Schluss, dass die Mineralstoffe die wichtigsten Nährstoffe sind, die unsere Körpersäfte in einem Gleichgewichtszustand halten. Die Rede war von der physiologischen Salzlösung (0,9 Prozent), ohne die kein Lebensprozess ablaufen kann. Blut, Speichel, Lymphe, Galle, Bauchspeichel und die verschiedenen Schleime sind schwache Salzlösungen. Die Konzentration der Salze in einer Lösung hat noch eine andere Eigenschaft, wie die Wissenschaft heute weiß: Die Aufrechterhaltung eines Stromruhepotentials von 85 Millivolt im Körper. Ohne dieses wäre keine Nerv- und Muskelfunktion möglich. Treten Störungen auf, ist der Transport lebenswichtiger Mineralstoff-Ionen gestört.
Krankmachende Reize als Verursacher
Verletzungen, Infektionen, Stress oder andere Reize können das Aktions- und Ruhepotential empfindlich stören. Die Folge: Viele Prozesse können nicht mehr adäquat ablaufen und Krankheiten entstehen. Vor über 145 Jahren – und damit lange Zeit vor der Entdeckung dieser Zusammenhänge in der Medizin – hat Dr. Schüßler sie erkannt, nämlich dass krankmachende Reize (z.B. Infektionen, Verletzungen) den sensiblen Mineralstoffhaushalt der Körperzellen aus dem Lot bringen. Und er schreibt: „Wenn ein pathogener Reiz eine Zelle berührt, so wird ihre Funktion davon anfangs verstärkt, weil sie sich bemüht, den Reiz abzustoßen. Verliert sie infolge dieser Tätigkeit einen Teil ihrer mineralischen Funktionsmittel, so ist sie pathogen verändert.“
Schüßler meinte damit, dass erst ein krankhafter Einfluss wie beispielsweise eine Verletzung zur Störung des Mineralstoffgleichgewichts führt. Diese Störung muss mit gleichen Stoffen behoben werden (Schüßler-Salze), sofern der Organismus nicht in der Lage ist, durch sein eigenes Heilbestreben die Störung zu beseitigen. Ist also die Funktion der Zelle durch einen Reiz gestört worden, treten Funktionsanomalien der Organe (Magen, Darm, Herz) und Gewebe (Haut, Schleimhaut, Blutgefäße, Muskeln, Knochen) auf.
Schüßler-Salze regulieren den gestörten Mineralstoffhaushalt
Der Darm beispielsweise arbeitet nicht mehr korrekt, es kommt zu Verstopfung oder der Magen bildet übermäßig Salzsäure und greift die Schleimhaut an. Die entstandene Störung gilt es nach Dr. Schüßler sofort zu regulieren, und zwar dort, wo sie aufgetreten ist – zum Beispiel in den Zellen der Magen- oder Darmschleimhaut. Jetzt kommen die Schleimhaut-typischen Salze zur Anwendung wie zum Beispiel Nr. 3 Ferrum phosphoricum D12 oder Nr. 4 Kalium chloratum D6. Ebenso wichtig ist aber, negative Reize, belastende Einflüsse auf die Organe zu vermeiden. Schüßler-Salze korrigieren also gestörte Funktionen und bringen sie wieder ins Lot. Damit wird der natürliche Heilungstrieb unterstützt, nicht blockiert oder unterbunden. Schüßler selbst schreibt, dass eine therapeutische Hilfe nur dann notwendig ist, wenn die Selbstheilung stagniert. Mineralstoffe in molekularer Form (potenzierte Salze) helfen, Heilprozesse in Gang zu setzen.
Impuls eines Holländers für seine neue Therapie
Die Mineralstoffe entdeckte Dr. Schüßler, als er auf der Suche nach einer für ihn plausiblen Therapie war. Dabei stieß er auf die Arbeiten des niederländischen Wissenschaftlers Professor Jacob Moleschott (1822–1893). Besonders faszinierend fand er dessen Satz: „Die Stoffe, die bei der Verbrennung zurück bleiben, die sogenannten Aschebestandteile, gehören zu der inneren Zusammensetzung und damit zu der formgebenden und artbedingten Grundlage der Gewebe. Ohne Leim-gebende Grundlage kein wahrer Knochen, ebenso wenig ein wahrer Knochen ohne Knorpelsalz oder Blut ohne Eisen, Speichel ohne Chlorkalium.“ Diese Aussage, so schreibt Schüßler, habe ihn veranlasst, eine biochemische Therapie zu begründen. Und weiter schreibt er, dass in seinem Heilverfahren nur elf Mittel zur Anwendung kommen, und zwar diejenigen, die den im Blut und im Gewebe enthaltenen anorganischen Stoffen homogen sind.
Dr. Schüßler – der Begründer der Mineralstofftherapie
Dr. Schüßler, der als erster aus dem Wissen um die Mineralstoffe eine wirksame und logische Therapie entwickelte, entdeckte, dass Mineralstoffe direkt in der Zelle wirken und sie so Fehlfunktionen ausmerzen.
Interessant ist, dass die Wissenschaft Schüßlers Theorie am Beispiel von Herzrhythmusstörungen im Jahre 2004 (Bild der Wissenschaft) bestätigt hat. Aufgrund einer Blockade durch Stress können Kaliumionen von den Herzmuskelzellen nicht aufgenommen werden, die Folge sind Herzrhythmusstörungen. Diese Störung ist nach Schüßlers Verständnis bedingt durch einen pathogenen (krankhaften) Reiz – in dem Fall ist das der Stress. Um Herzrhythmusstörungen bei seinen Patienten zu behandeln, gab Dr. Schüßler Kalium phosphoricum D6 und durchbrach damit die Zellblockade auf sanfte Weise. Die Rhythmusstörungen verschwanden, und zwar nicht durch Unterdrückung, sondern durch Regulation des Kaliumhaushaltes in der Zelle.
Erst durch die Veröffentlichung in der Bild der Wissenschaft (1/2005) wissen wir, dass Blockaden an den Ionenkanälen den Zellaustausch zum Erliegen bringen. Schüßlers These mit dem pathogenen Reiz und der bei Arrhythmie verordneten Nr. 5 war damals wie aus heutiger Sicht eine geniale Leistung.
Therapie mit körpereigenen Stoffen
Alle Schüßler-Salze kommen natürlich in unserem Körper vor. Therapeutisch werden sie in den Potenzen (nach dem homöopathischen Prinzip hergestellte Verdünnung) D3 (1:1.000), D6 (1:1.000.000) und D12 (1:1.000.000.000) eingenommen. Schüßler hatte damals erkannt, dass Mineralstoffe, sollen sie in der kleinsten Lebenseinheit, der menschlichen Zelle, wirken, verdünnt und fein zerkleinert sein müssen. Dazu bediente er sich der homöopathischen Potenzierung. Untersuchungen, die Schüßler von Universitäten kannte, zeigten ihm, dass Mineralstoffe nur in kleinen Mengen im menschlichen Körper vorkommen. Deshalb, so entschied er, müsse eine Mineralstofftherapie auch mit kleinen Gaben arbeiten. Mit dieser Aussage, so vermutete er, würden die Kritiker über ihn herfallen. Und so schob er gleich diesen Satz nach: „Wer von kleinen Gaben reden hört, denkt gewöhnlich sofort an die Homöopathie; mein Heilverfahren ist aber kein homöopathisches, denn es gründet sich nicht auf das Ähnlichkeitsprinzip, sondern auf die physiologisch- chemischen Vorgänge, welche im menschlichen Organismus sich vollziehen. Durch mein Heilverfahren werden Störungen, welche in der Bewegung der Moleküle der unorganischen (anorganischen) Stoffe des menschlichen Organismus entstanden sind, mittels homogener Stoffe direkt ausgeglichen, während die Homöopathie ihre Heilzwecke mittels heterogener Stoffe indirekt erreicht.“ Und weiter: „Das biochemische Heilverfahren liefert dem Heilbestreben der Natur die demselben fehlenden natürliche Mittel: Die anorganischen Salze. Die Biochemie bezweckt die Korrektion der von der Norm abgewichenen physiologischen Chemie.“
Schüßler-Salze fördern die Aufnahme von Mineralstoffen aus der Nahrung
Dass die Gabe von homöopathisierten Mineralstoffen auch die Aufnahme des gleichen Mineralstoffes aus der Nahrung intensivieren kann, hat ein Zeitgenosse Schüßlers, Professor Dr. Bock beschrieben und zwar hinsichtlich von Kalziumphosphat: „Die Infinitesimalgaben (unwägbar kleine Gaben) von Kalk, welche die Homöopathie solchen Kindern verordnet, entsprechen zwar nicht ihrer Quantität nach dem Mangelquantum, sie regen aber den Organismus zu seiner natürlichen Tätigkeit an, aus kalkhaltigen Nahrungsmitteln den Kalk zu entnehmen, dessen er bedarf.“
Einzigartige Leistung
Es ist erstaunlich, dass Dr. Schüßler diese Zusammenhänge in einer Zeit entdeckte, in der man allenthalben über die exakte Funktion der Mineralstoffe spekulierte. Diese einzigartige Forscherleistung eines praktischen Arztes ist höchst anerkennenswert. Betrüblich ist, dass die wissenschaftliche Mineralstoffmedizin Schüßlers Entdeckung mit keiner Silbe erwähnt, geschweige denn sie überhaupt würdigt. Umso erfreulicher aber ist, dass die Schüßler-Salz-Therapie in der Naturheilkunde weltweit einen einzigartigen Ruf genießt.
Erst kürzlich äußerte sich einer der großen Naturärzte über Dr. Schüßler und zwar Natale Ferronato aus der Schweiz – der Entdecker der Pathophysiognomik: „Die wichtigste Therapie in meiner Praxis sind die Schüßler-Salze, die ich bei allen Patienten einsetze – mit ihnen habe ich hervorragende Heilerfolge erlebt.“ Natale Ferronato hat Patienten in der ganzen Welt behandelt, und selbst hoch betagt mit 94 Jahren behandelt er ab und zu noch Kranke. Er würdigte Dr. Schüßler in einem Interview als ein großes Genie.
Magnesium: Selten besteht ein Mangel
Eine neuere Untersuchung, die im Juli 2020 im Netzwerk „DocCheck“ veröffentlicht wurde, beschreibt, dass bei Menschen, die unter Wadenkrämpfen leiden, häufig Magnesium hilft. Der Sportmediziner Dr. med. Michael Fritz (Viersen) schreibt, dass aber kein Mensch mit Krämpfen oder anderen Magnesium-Mangelsymptomen einen Magnesiummangel im Blut hat, also der Wert fast immer im Normbereich liegt. Dennoch half die Gabe von Magnesium. Diese Feststellung bestätigt die Theorie Schüßlers, nämlich dass ausreichend Mineralstoffe im Körper vorhanden sein können, die Verteilung, der Umlauf oder die Zellaufnahme eines Mineralstoffes aber trotzdem gestört ist. Schüßler-Salze in ihrer potenzierten Form wirken ausgleichend auf den Mineralstoffhaushalt, führen der Muskelzelle zum Beispiel Magnesium zu und beseitigen die Störung – in dem Fall Wadenkrämpfe oder andere Beschwerden.
Zur Person:
Wilhelm Heinrich Schüßler kam am 21. August 1821 in Bad Zwischenahn im Ammerland, nicht weit von Oldenburg entfernt, zur Welt. Er arbeitete bis zum 31. Lebensjahr bei der Stadt Oldenburg als Ratsschreiber. Mit 32 Jahren entschloss er sich, Medizin zu studieren und nahm 1853 sein Studium in Paris auf. Später wechselte er an die Hochschule in Berlin und promovierte in Gießen. Fünf Jahre später erhielt er von der Großherzoglichen Regierung in Oldenburg die Zulassung als Arzt. In der Oldenburger Kurwickstraße eröffnete er seine erste Praxis als Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer. Schon bald galt sein Interesse der Homöopathie, mit der er bis zu Beginn der 1870er Jahre seine Patienten mit großem Erfolg behandelte.
Günther H. Heepen ist Heilpraktiker, Medizinjournalist und Autor zahlreicher Fachbücher.