Entfremdung von sich Selbst – achtsame Sinneserfahrungen sind Tore zur Wahrnehmung

Mit Natur und Pflanzen-Wahrnehmungen unserem inneren Wesen begegnen lernen

Perlen von Tropfen des Morgentaus im Lichte sind kleine Wunderwerke. Wie ich alles lebendiger nicht beschreiben könnte, zeigt folgender Text:

„Überströmendes Glück“

Überströmendes Glück der Erde, festlicher Glanz des Lichtes in allem, mitreißende Choreographie der Freude, begeisterndes Schauspiel der Schöpfung, gestaltet in sechs Akten und einer Ruhezeit. Es singt und springt und wimmelt von Leben auf Gottes guter Erde. Weit geöffneter himmlischer Raum, ursprünglich erschaffen als Festsaal der Freude.

Leider ist der Verfasser unbekannt, aber was hatte dieser Mensch für eine schöne Wahrnehmung und Empfindung.

Gegen die Reizüberflutung

In unserer hektischen und schnelllebigen Welt können wir unserem eigenen Wesen kaum mehr begegnen. Unsere Aufmerksamkeit ist hauptsächlich nach außen gerichtet, der Mensch in sich bereits mit
so vielen Sinnesreizen überflutet und der Kopf überreizt. Da unser Geist kaum mehr eine ruhige Minute hat, um innezuhalten und nachzusinnen, verlieren wir oft die gefühlte Verbindung zu uns Selbst, zu unserer eigenen Wesensnatur, sowie auch das tiefe Gefühl von Verbundenheit mit den heilsamsten Kräften unserer Natur. Wie können unsere Sinne wieder Tore in eine natürliche Welt und in die Wahrnehmung werden?

Heute ist allgemein bekannt, dass die meisten Menschen aus den Rhythmen der Natur herausgefallen sind. Entfremdung von sich Selbst und von der Natur, auch ein geistig-seelisches Komplett-abgetrennt-sein von der Natur, sind nichts Neues. Das Kognitive hat die Oberhand gewonnen, und das Erleben und Fühlen scheint zu verkümmern. Sichtbar und deutlich wird es an der rasant zunehmenden Zahl von Menschen, die an Körper und Seele erkranken. Überall sind die Folgen des krankmachenden Dauerstresses zu sehen. Unser Kopf, unser Intellekt, läuft auf einer Ebene, die nicht mehr verbunden ist mit den Wurzeln, deshalb tauchen diese Entfremdungsphänomene mehr und mehr auf.

Millionen von Jahren haben wir aber mit Vogelgezwitscher, mit der uns tragenden Erde unter den Füßen gelebt und sind mit der Sonne, unserer Licht- und Wärmespenderin, aufgestanden. Wir waren eingebunden in die duftende uns alles durchpulsende grüne Kraft der Natur und in ihren heilsamen Ur-Rhythmen. Abends saßen wir am lebendigen Feuer. Es wärmte, schützte und spendete Licht, schenkte Wärme und Ruhe nach einem anstrengenden Tag. Auch heute noch, nach so vielen Tausenden von Jahren, fasziniert uns das Element Feuer. Wir sitzen auch heute noch, nach getaner Arbeit vor einer Lichtquelle, doch es ist nicht mehr das duftende Feuer, sondern das fahle, elektronische Licht des Fernsehers oder des Laptops. Diese heilsame Verbindung zur Natur und ihren wohltuenden Kräften ist abgebrochen. Was für die Menschen in damaliger Zeit ein Urvertrauen in die Schöpfung war – ein Eingebettet-Sein, fühlend mit unseren ureigenen Wurzeln – scheint für viele Menschen verloren.

Pflanzen sind wichtige Arzneiquellen

Haben wir vergessen, dass Pflanzen die Lebensgrundlage aller Menschen und Lebewesen sind? Pflanzen sind Ursprung aller Nahrung und waren einst die wichtigste Quelle aller Arznei! Sie dienen uns nicht nur zur unmittelbaren Erhaltung unseres Lebens, sondern sie sind uns auch eine Quelle von Lebensfreude, Inspiration und Kraft. Im Frühling lässt erstes Knospen uns Schönheit ahnen, die zahlreichen Blüten verströmen frischen Duft und bilden ein Farbenmeer von Schönheit. Auch das gedämpfte Licht eines Frühherbstes hat besondere magische Fähigkeiten.

Das Sich-einlassen und Lernen von diesen Urkräften bringt uns Seelen- und Selbstvertrauen. Ruhepole in der Natur können zu verlässlichen Energiequellen werden, vor allem wenn zu viele Anforderungen auf einmal auf uns einströmen. Wenn Augenblicke in der Natur bewusst und achtsam aufgenommen werden, sind sie sogar seelische Vorratskammern. Eine Liebe zur Natur kann wachsen, und Zeiten in der Natur können wie Seelenurlaub oder unermessliche Quellen des Glücks sein, aus denen man täglich schöpfen sollte. Eines sollten wir uns gewiss sein: Es gibt KEIN Zuviel an Natur!

Zahlreiche wissenschaftliche Studien bestätigen mittlerweile die Heilkraft der Natur. Wichtige Dinge verschwinden nicht, sie erwachen wieder und erscheinen neu, oft auf einer anderen Ebene. Besonders in der Heilpflanzen-Welt ist ein großes Potenzial an Kräften verborgen, die dem Menschen in kranken und gesunden Tagen, Genesung und Vitalität schenken können. Zu diesen Pflanzenkräften hatten unsere Vorfahren einen sehr tiefen intuitiven Zugang. Sie wussten Natur ist in uns und nicht nur um uns, oder gar nur draußen, sie durchwebt uns und lebt in uns! Natur ist beseelt und Ausdruck einer sehr hohen, universellen Intelligenz.

Wir können über 1000 Bücher lesen, aber die Praxis ist primär, es reicht nicht der Kopf, wir müssen uns mit unserem ganzen menschlichen Wesen hineinbegeben in eine solche Erfahrung, um es wortwörtlich zu „er-fahren“, „er-fühlen“, „be-greifen“, riechen, tasten, schmecken, sehen oder besser schauen, wie Goethe einmal sagte: „Wir sehen viel, aber schauen wenig!“ Diese Flut des vielen Sehens und eine zu starke Identifikation nur mit reinem Denken verhindert das Fühlen und Wahrnehmen. All die technischen Möglichkeiten, die es heute gibt, bieten solche Sinneserfahrungen leider nicht mehr, im Gegenteil, sie überfrachten unsere Seele mit so enorm vielen Eindrücken, machen Stress und sind oft nicht mehr gesund verarbeitbar.

Unsere fünf Sinne: In unserer schnelllebigen Welt werden sie leider oft ungleich reizüberflutet, oder wir vernachlässigen sie häufig unbewusst

Sinneswahrnehmungen haben aber nachhaltigen Einfluss auf die Lebensqualität eines Menschen. Was wir von der Welt wissen, das wissen wir durch die Wahrnehmung. Dies gilt ohne Ausnahme! Diese elementare Tatsache macht das Wahrnehmen zu einem so selbstverständlichen und unbewussten Vorgang, dass wir in der Regel ganz vergessen, welchen bedeutenden Schatz wir mit unseren Sinnen besitzen.

Unsere Sinne sind die Tore zur Welt. Sie empfangen Botschaften aus der Welt – ob Licht, Farbe, Beschaffenheit, Form, Geruch, Klang, Geschmack und vieles mehr. Sinne und Wahrnehmung – lassen sich ähnlich wie Muskeln – trainieren. Entscheidend dafür ist allerdings, dass wir ENB-Einhefter LXXI – Mai 2021 unsere Mitmenschen und unser Umfeld achtsam und bewusst wahrnehmen. Ein achtsames Wahrnehmen ist nur möglich, wenn wir Ablenkungen reduzieren oder so gut als möglich ausschließen, also einen Raum für Stille schaffen und uns Zeit nehmen, um für diese Dinge ganz präsent zu sein. Vor allem mal wieder „offline“ statt „Stand-by“ gehen.

Eine vielbeschäftigte Freundin schrieb mir einmal: „Ich möchte einfach nur mal hier Sein, nur hier Sein. Nicht rennen, nicht hetzen, ob in Gedanken oder von Ort zu Ort, oder von einem Gedanken zum anderen. Einfach nur mal hier Sein und vor allem das Leben spüren. Mein Leben spüren, mich spüren, mich fühlen, in mich lauschen.“ Viele Menschen fühlen sich hier angesprochen. Es ist so: Wer erschöpft ist, spürt sich selber, also sein „Selbst“ nicht mehr.

Vor Jahren wurde ich als Dozentin zu mehrjährigen Fortbildungsreihen “Lehrergesundheit als Führungsaufgabe“ eingeladen. Besonders eindrucksvoll war das Erlebnis mit Schulleiter/innen aus Baden-Württemberg.

Im Rahmen dieser Fortbildungsveranstaltungen „Exkursionen in die Gesundheit – Was Gesundheit fördern kann“ hatten die Teilnehmer/innen die Möglichkeit, am Angebot Achtsamkeit für die Sinne / Kräuter-Duft-Workshop teilzunehmen. Während des Workshops ging es um das achtsame Begegnen von Heilpflanzen auf verschiedenen sinnlichen Ebenen, sowie die Wahrnehmung mit dem eigenen inneren Selbst.

Im Auftrag des Ministeriums für Kultus und Sport Baden-Württemberg bietet die Landesakademie für Fortbildung und Personalentwicklung diese Weiterbildung jährlich für 80 Führungskräfte an Schulen an und wollte mit diesem Workshop ganz bewusst auch einen ganzheitlichen und sinnlichen Zugang zum Thema „Gesundheit“ eröffnen. Die Leitung der Weiterbildung war selbst gespannt auf die Reaktion. Bisher hatte sie die Erfahrung gemacht, dass die Schulleiter/innen – vor allem aus den weiterführenden Schulen – eine eher kognitive Beschäftigung mit dem Thema „Gesundheit“ bevorzugen und sich in ihrer Rolle als Schulleiter/in eher ungern auf sinnliche Erfahrungen einließen. So war ich selbst skeptisch und ließ mich dennoch auf dieses Experiment, mit dieser Zielgruppe, ein.

Die Erfahrung während des Workshops zeigte überraschend deutlich, wie sehr wir als Menschen tiefe wahrnehmende Wesen sind! Interessanterweise wird die Wort-Bedeutung Mensch aus dem Tibetischen übersetzt: „Das Wesen, das nach Innen schaut!“ Der Mensch ist in seinem Ursprung gedacht als ein Wesen, das nach Innen schauen kann und sollte. Dies bedeutet ein achtsames Wahrnehmen durch tiefes Schweigen oder auch Lauschen nach Innen.

Im Workshop ging es darum, sich den Pflanzen und ihren Düften mit Achtsamkeit zu öffnen, mit allen Sinnen auf diese einzulassen, was achtsam wahrnehmend geübt wurde. Gerade durch das Pflegen und Trainieren von Achtsamkeit, wird die innere Haltung durch Achtsamkeit verfeinert. Die Teilnehmer/innen ließen sich mit großer Hingabe darauf ein. Wenn wir uns achtsam an solche Sinneserfahrungen herantasten, mit einer Art von Leichtigkeit und Anmut, findet eine Berührung im inneren Wesenskern des Menschen statt, genaugenommen im Herzen. Unser eigentliches Wesen liegt hinter unserer Persönlichkeit und wird durch ständige Aktivität und Rationalität permanent in den Hintergrund gedrängt, was den meisten Menschen gar nicht bewusst ist. Unser scheinbar vordergründiges „Ich“ mit all seinen Wünschen und Ängsten, seinem Begehren und auch Abwehren ist oft der Grund für unser Leiden. Sich ganz dem Hier und Jetzt, von Augenblick zu Augenblick hinzugeben, sich mit der Wirklichkeit des eigenen Erlebens vertraut zu machen, bedeutet – reine Gegenwart oder Gewahrsein. Bitte verwechseln Sie dies nicht mit Denken! Gewahrsein ist nicht dasselbe wie Denken. Gewahrsein geht sehr weit über begriffliches oder intellektuelles Wissen hinaus! Es ist interessant, dass im japanischen mind/Geist und heart/Herz mit demselben Wort bezeichnet werden. Wenn wir hier von Achtsamkeit, also mindfulness, sprechen dürfen – müssen wir uns vor allem im Herzen angesprochen fühlen, sonst werden wir das Wesentlichste verfehlen.

Ob jung oder alt: Immer wieder werden wir überrascht sein, wie intensiv unsere Sinneswahrnehmung sein kann, wenn wir uns auf sie einlassen.

Gegenwart ist also Anwesenheit. Wenn ich nicht anwesend bin, ist auch der Augenblick nicht anwesend. Denn der Augenblick bekommt durch mich sein Sein, seine reine Präsenz.

Die Gesichter der Teilnehmer/innen waren entspannt, beseelt und glücklich. Wenn reine Gegenwart ist, ist reine Präsenz. Jeder von uns kennt solche Augenblicke, in denen man ganz gegenwärtig ist. In ihnen steht die Zeit still. Wir können so zusammenfassen: Die Achtsamkeitspraxis mit Heilpflanzen – dehnt das Verbunden-Sein mit der Natur und mit dem Wiedererkennen von „SELBST Natur-Sein“ aus. Für unser Bewusstsein wird so „die Natur“ aus dem Hintergrund in den Vordergrund unserer Wahrnehmung geführt. Grundsätzlich gilt: In einer naturbezogenen Achtsamkeitspraxis ist Natur nicht einfach Kulisse, sondern Teil achtsamer Begegnung.

Wir nehmen bewusst den Geruch wahr, riechen, fühlen, lassen uns ganz darauf ein, lassen geschehen und wirken. Je bewusster wir uns einlassen, uns auf eine ganz natürliche heilsame Art und Weise, wirklich berühren lassen von Farben, Formen, Düften der Heilpflanzen, werden wir auch auf psychischer und physischer Ebene seelisch berührt. Die Teilnehmer/ innen haben es so beschrieben, als seien sie bei sich wie „zu Hause angekommen“ oder sprachen von einem wieder „Ganz-bei-Sich-Sein“, „das Herz schlage ganz ruhig“, und sie hätten sich seit langem wieder bewusst gespürt und gefühlt.

Wir selbst sind NATUR! Leben wir in und mit den Jahreszeiten, in ganzheitlicher Verbindung zur Natur, so erleben auch wir: Geboren werden, Wachsen, Blühen, Reifen, Früchte tragen, sich Verschenken, Sterben, Träumen und Wiedergeboren werden. Diese Naturprozesse helfen uns zu viel mehr Ganzheit, denn Wachsen, Sprießen und Gedeihen …, ist auch UNSERE NATUR! Wir selbst sind Natur. In jedem Menschen ist heilende Kraft von Natur aus angelegt und immer vorhanden. Es ist die Kraft des Urgrundes und ein Urquell, die unser eigentliches wahres Wesen ist, und dieses Wesen möchte wieder liebevoll geweckt werden.