Essstörungen in der (Ernährungs-)Therapie neu begegnen

Wenn Ernährungstherapeuten in die sechsten und siebten Klassen weiterführender Schulen gerufen werden, um mit heranwachsenden Jugendlichen Aufklärungsarbeit in puncto Essstörungen zu machen, zeigt dies, dass etwas mit unserer Gesellschaft nicht stimmen kann.

Umwelt und Soziale Netzwerke als Auslöser?
Seit vielen Jahren lässt sich ein besorgniserregender Trend beobachten. Junge Mädchen (wobei es auch immer mehr Jungs gibt) machen es sich zur obersten Priorität, ihren Körper als Zuchtinstrument zu behandeln. Der wachsende, mediale Druck, den sozialen Netzwerke wie Instagram oder Tik Tok auf die Kinder ausüben, ist teils enorm. Der Wunsch, zu einer Gruppe Teenager dazuzugehören, ist bereits seit Generationen in uns verwurzelt. Doch wo sich einst Teenie-Gruppen über Markenkleidung oder Sportarten definierten, ist heute das Körperideal zu einem zentralen Thema der Identifikation geworden. So scheint es en vogue zu sein, wenn junge Mädchen statt an einem Schulbrot lieber an einem grünen Smoothie nippen. Wo es einst Gesprächsthemen rund um Schminktipps und Liebesfilme gab, geht es heute vielmehr um die perfekte Optimierung eigens geschriebener Diät- und Sportpläne. Der Wunsch nach einem makellosen Körper stellt sich heutzutage nicht selten bereits im Kindesalter ein. So ist es nicht unüblich, dass acht-, neun- oder spätestens zehnjährige Mädchen bereits ihre ersten Diäterfahrungen gemacht haben. Dazu gehört nicht nur das restriktive Essen – also der bewusste Verzicht auf Nahrung, obwohl der Körper noch ein Hungergefühl signalisiert – sondern auch das Zählen von Kalorien oder das Kompensieren vermeintlich großer Kalorienmengen durch Sport. Nicht umsonst zählt eine Diät als Einstieg in eine sich schleichend entwickelnde Essstörung.

Am Anfang war die Diät
Sobald Kinder beginnen, den eigenen Körper kritischer als gewohnt unter die Lupe zu nehmen, sollten bereits die ersten Alarmglocken schellen. Auch an der Sprache der Kinder und Jugendlichen zeichnet sich schnell ab, in welchem Verhältnis sie zu ihrem Körper stehen. Fallen Bezeichnungen wie etwa fett, wabbelig oder eklig, könnte dies bereits auf eine verzerrte Körperwahrnehmung hindeuten. Diese Körperschemastörung ist letztendlich auch die treibende Kraft, warum Kinder und Jugendliche dem Magerwahn verfallen. Eine Diät stellt den flachsten und einfachsten Einstieg in die Welt der Essstörungen dar. Denn letztendlich werden während einer Diät viele Verhaltensweisen antrainiert, die auch essgestörte Kinder und Jugendliche aufweisen. Neben dem bereits angesprochenen restriktiven Essen, Kalorienzählen und den Kompensationsmethoden arbeiten viele Diäten auch mit psychologischen Tricks. Statt eines normalen Tellers wird ein kleiner Teller verwendet, um die Portion größer erscheinen zu lassen. Lebensmittel werden in kleine Stücke unterteilt, um die Menge größer wirken zu lassen oder viele Lebensmittel werden gleich ganz gemieden. Der Unterschied zwischen einer Diät und einer Form der Essstörung, der Anorexia nervosa, liegt darin, dass diese Essstörung im Prinzip eine endlos verlängerte Extremdiät darstellt.

Wenn die Krankheit im Kopf beginnt: Magersüchtige leider unter einer völlig verzerrten Selbstwahrnehmung.
Wenn die Krankheit im Kopf beginnt: Magersüchtige leider unter einer völlig verzerrten Selbstwahrnehmung.

Essstörung ist nicht gleich Essstörung – ein Überblick

Anorexia Nervosa – bekannt auch als Magersucht. Im Fokus steht der zwanghafte Verzicht auf Essen und die exzessive Beschäftigung mit dem eigenen Körper. Körperschemastörungen sind ein zentrales Kennzeichen der Magersucht, da sich Betroffene als viel zu dick empfinden, selbst wenn das Körpergewicht bereits stark im Untergewicht liegt. Eine Anorexie wird zusätzlich durch einen BMI unter 18,5 gekennzeichnet.

Bulimia Nervosa – bekannt als Ess-Brech-Sucht. Betroffene haben nach dem Essen das Bedürfnis nach Erbrechen oder anderen Kompensationsstrategien wie etwa Sport oder Abführmittel. Charakteristisch für die Bulimie sind zudem Essanfälle, in denen teils große Mengen Lebensmittel verschlungen und erbrochen werden. Eine Bulimie gilt als versteckte Essstörung, denn Betroffene können diese lange verheimlichen. Ein niedriges Körpergewicht muss nicht zwangsläufig mit einer Bulimie im Zusammenhang stehen. Viele Betroffene wirken auf Außenstehende körperlich gesund.

Binge Eating – Diese Form der Essstörung zeichnet sich durch den Verzehr großer Essensmengen ohne eine anschließende Kompensation aus. Binge Eating betrifft oftmals Menschen, die übergewichtig sind oder bereits das Adipositas-Stadium erreicht haben. Eine Form des Binge Eating ist das sogenannte Night Eating Syndrom. Hier überkommen Betroffene vor allem nachts die Essanfälle. Binge Eating erhöht nicht nur die Gefahr für Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes, sondern setzt den Betroffenen auch psychisch stark zu. Dies gilt darüber hinaus auch für jede andere Form der Essstörung.

Sobald mit übermäßigem und völlig maßlosem Essen Frust kompensiert wird, spricht man von “Binge-Eating”. Rasches Handeln ist gefragt, um gesundheitliche Langzeitschäden von den Kindern und deren Psyche noch rechtzeitig abwenden zu können!

Sobald mit übermäßigem und völlig maßlosem Essen Frust kompensiert wird, spricht man von “Binge-Eating”. Rasches Handeln ist gefragt, um gesundheitliche Langzeitschäden von den Kindern und deren Psyche noch rechtzeitig abwenden zu können!

Die Magersucht – eine Krankheit auf dem Vormarsch

Die Anorexie wird sicherlich noch vielfach mit einer Teenagerkrankheit verbunden. Doch der Trend entwickelt sich seit den letzten Jahren zunehmend in eine andere Richtung. Immer mehr Mädchen und Kinder geraten bereits frühzeitig in den Sog der Essstörungen, sodass selbst Achtjährige bereits tief in einer Essstörung stecken können. Gerade hier ist ein notwendiges Feingefühl von Eltern, Familie und Lehrpersonal gefordert. Wer frühzeitig die richtigen Fragen stellt und das Essverhalten des Kindes nicht nur als Phase abtut, hat eventuell die Möglichkeit, noch vor einer tieferen Manifestation das Verhalten des Kindes in die richtige Richtung zu steuern. Doch wie erkennt man als Bezugsperson ein krankhaftes Essverhalten?

1. Diätpläne

Das, was durch Soziale Netzwerke bereits als „hipp“ propagiert wird, ist bei Kindern fehl am Platz. Kinder brauchen weder eine 30-Tage-Challenge noch eine Liste ausgewählter Lebensmittel. Finden sich solche (gedanklichen) Listen in den Köpfen der Kinder, sollten Bezugspersonen bereits wachsam sein. Auch wachsendes Interesse an Kalorienangaben auf Lebensmitteln und auf Rezepten sollte hellhörig machen.


Alarmstufe Rot: wenn Kinder mit Kalorienzählen und ersten Diäten beginnen, dann sollten Sie sich dieser Warnzeichen dringend ernst nehmen!

2. Ablehnung „ungesunder“ Lebensmittel

Ein klassisches Symptom der Anorexie ist das kategorische Ablehnen von Lebensmitteln, die bisher gerne gegessen wurden. So kann es sein, dass Kinder plötzlich aufhören, Hühnerei, Käse oder Nudeln zu essen, ohne dafür einen Grund zu nennen. Dahinter steckt die Angst vor den Kalorien, die diese Lebensmittelgruppen mit sich bringen. Dadurch kommt es auf längere Sicht zu einem starken, restriktiven Essverhalten, was oftmals mit einer schwierigen Phase verwechselt werden kann. Hier ist es wichtig, wachsam zu sein und mehrere Auffälligkeiten zu einem Gesamtbild zu kombinieren.


Restriktives Essen und bewusstes Aussortieren kalorienreicher Lebensmittel sind klare Anzeichen für sich einschleichende Essstörungen.

3. Verzerrte Körperwahrnehmung

Instagram und die von Jugendlichen intensiv genutzte Plattform Tik Tok bieten eine Plattform vielfacher Vergleichsmöglichkeiten mit anderen Jugendlichen. Durch das permanente Vergleichen des eigenen Körpers mit den von anderen entsteht in Kindern und Jugendlichen zunehmend das Gefühl der Minderwertigkeit. Es gibt Schönheitsideale, die es zu erreichen gilt, auch wenn der eigene Körper (noch) gar nicht dafür ausgelegt ist. Nicht umsonst ist die Anorexie die Erkrankung, die oftmals in der Transformationsphase vom Mädchen zur Frau auftritt.


Instagram, TikTok, soziale Medien: bereits viel zu früh sind Kinder dem ständigen Vergleichsdruck völlig falscher Ideale ausgesetzt.

Diese kleine Liste ist bereits ein Indikator dafür, ob sich das Essverhalten eines Kindes in eine bedenkliche Richtung entwickelt. Bei den genannten Auffälligkeiten empfiehlt es sich, frühzeitig Kontakt zu einem Kinderarzt, Kinderpsychologen oder einem Familienberater aufzunehmen. Auch das Einbeziehen einer qualifizierten Ernährungsfachkraft kann sinnvoll sein. Denn oftmals braucht es viel Feingefühl, um das Verhalten von essgestörten Menschen zu verstehen.

Ein multikausales Problem
Auch wenn meistens eine Diät der Einstieg in eine Essstörung wie die Anorexie Nervosa ist, so ist es doch nie nur die einzige Ursache. Essstörungen haben immer multikausale Ursachen, die Diät ist schlussendlich nur der Tropfen auf den heißen Stein. So können tiefgreifende Familienkonflikte, sexueller Missbrauch, Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend oder das Vorleben durch Eltern zu der Entwicklung von Essstörungen beitragen.

Das (Nicht)-Essen ist nicht die Ursache, sondern das Symptom
Viele klassische Therapiemethoden zielen auf das Essen bzw. das Nicht-Essen als Symptom ab und thematisieren dies als zentrales Problem. Da die Verhaltensweisen von essgestörten Menschen jedoch immer auch eine Vermeidungsstrategie aufweisen, zeigt dies, dass die Therapie ganzheitlich das Problem an der Wurzel packen muss. Gerade im ambulanten Bereich ist das eine große Herausforderung.
Die Chance liegt hier in einem interdisziplinären Expertenteam, das essgestörte Menschen auch im ambulanten Bereich ganzheitlich betreuen kann. In der Realität mangelt es hier jedoch aufgrund verschiedener Hürden wie etwa endlose Wartelisten oder unterschiedliche Abrechnungssysteme bisher an der Umsetzbarkeit.

Ernährungstherapie – eine Chance für ein interdisziplinäres Themenfeld?
Ernährungstherapeuten nehmen in der medizinischen Versorgung eine Sonderstellung ein. Denn anders als bei Heilpraktikern oder Physiotherapeuten unterliegt die Ernährungstherapie weder einer Gebühren- noch einer Heilmittelverordnung. Die Bewilligung einer Ernährungstherapie obliegt den Krankenkassen beziehungsweise den privaten Krankenversicherungen. Die Anzahl der Termine ist dabei auf maximal fünf Stück pro Jahr begrenzt. Gerade wenn komplexe Erkrankungen wie etwa Essstörungen vorliegen, die eine längerfristige Begleitung des Klienten voraussetzen, sind die Chancen für nachhaltige Therapieerfolge gering. Fünf Sitzungen reichen daher lediglich für kurze Impulse, die durch Psychotherapeuten vertieft werden müssen. Doch auch hier fehlen meist Zeit und Ressourcen. Ernährungstherapeuten sind daher auf ein gutes Netzwerk aus interdisziplinären Experten wie etwa Psychotherapeuten, Heilpraktiker und Ärzte angewiesen.

Empathie – der Schlüssel für eine erfolgreiche Therapie
Die Empathie des Therapeuten ist einer der maßgeblichen Schlüssel, um bei Essstörungen Therapieerfolge zu erzielen. Es geht jedoch nicht nur um die Empathie für den Klienten, sondern auch für die Essstörung. Essstörungen wollen gesehen, gehört und verstanden werden. Eine schlichte Symptombekämpfung ist nicht zielführend, sondern führt im worst case sogar zum Therapieabbruch. Erst wenn der Therapeut in der Lage ist, das Sein der Krankheit zu verstehen, können sich daraus neue Therapieansätze entwickeln.
Lohnenswert ist hier auch der Blick in den Ansatz der Salutogenese. Ein System, das beschreibt, dass Krankheit und Gesundheit ein zusammenhängendes Konstrukt sind, dessen Ziel es ist, die Gesundheit als stärkende Kraft in den Fokus zu stellen.

Die Salutogenese
Der Begriff Salutogenese (aus: salus = Heil und genese = Entstehung) wurde von Aaron Antonovsky in den 70er Jahren entwickelt und bedeutet „Entstehung von Gesundheit“. Der Körper ist ständig Einflüssen ausgesetzt, die seine Gesundheit stören. Gesundheit ist dabei kein stabiler Zustand. Sie muss ständig in der Auseinandersetzung mit krankmachenden Einflüssen neu aufgebaut werden. Der Mensch muss hierbei seine Ressourcen so nutzen, dass sie zur Erhaltung seiner Gesundheit und zu seinem Wohlbefinden beitragen. Zur Beibehaltung der Gesundheit und Herstellung des Wohlbefindens im Sinne der Salutogenese sind drei Bereiche von großer Bedeutung:
– Ernährung
– Bewegung
– Selbstwahrnehmung

Inspiration aus fremden Kulturen
Wer neben dem Prinzip der Salutogenese noch etwas anderes in der Therapie bei Essstörungen probieren möchte, sollte einen Blick nach Indien werfen. Die ayurvedische Küche bietet nicht nur eine Fülle an neuartigen Lebensmitteln und Gewürzen, sondern verankert jahrtausendealtes Wissen in einem neuen Prinzip: dem Gleichgewicht von Körper, Geist und Seele. Die ayurvedische Ernährung ist zwar ein Novum in der Therapie von Essstörungen, jedoch bietet sie Gelegenheit, der Krankheit durch die Integration unbesetzter Lebensmittel entgegenzuwirken.