Heilender Wald

Unsere Industriegesellschaft hat sich von ihren Wurzeln entfremdet. Viele Menschen haben in ihrem alltäglichen Leben kaum Kontakt zur Natur. Hektik und Leistungsansprüche des modernen Lebens bringen Anspannung, Versagensangst oder sogar die Entfremdung vom eigenen Körper und den eigenen Bedürfnissen mit sich. Bekanntlich kann dies auf Dauer stressbedingte Erkrankungen nach sich ziehen wie Rücken-, Nacken- und Schulterschmerzen, Bluthochdruck, AltersDiabetes und deren Folgeerkrankungen: Arteriosklerose, Koronare Herz-Krankheit, Herzinfarkte sowie Schlaganfälle. Die moderne Lebensweise führt u.a. dazu, dass viele Kinder vom Kleinkindalter an regelmäßig Bildschirme benutzen, seien dies Fernseher, Handys oder Computer. Das verschlechtert die Schlaf-Qualität und kann zu Veränderungen von Wahrnehmung und Aufmerksamkeit führen. Neueren Studien zufolge scheinen sowohl längere Bildschirm-Aktivitäten als auch eine Ernährung mit industriell stark veränderten Lebensmitteln Erkrankungen an ADS oder ADHS zu begünstigen. Im Gegensatz dazu zeigten in einer deutschen Studie Schüler und Schülerinnen des BioUnterrichts im Wald eine deutlich höhere Lernbereitschaft und Eigenmotivation als die gleichaltrige Vergleichsgruppe im Klassenzimmer. Viele haben bereits einmal die Erfahrung gemacht, dass in der Natur ein Teil der Anspannung des Alltags abfällt. Das seelische Befinden wirkt sich auf den ganzen Körper aus, was wiederum eine Rolle bei der Prävention von und Genesung nach Krankheiten spielen kann. Aufenthalte im Wald können eine gesundheitliche Basis schaffen, auf der andere Therapie-Methoden wie Physio- oder Psychotherapie ihre Wirkung stärker entfalten können. Japanische Forscher konnten eine ausgleichende Wirkung von Aufenthalten im Wald auf Blutdruck, Herzfrequenz, HirnAktivität, Wohlbefinden, Gefühlsleben, Immun-Faktoren sowie Stresshormone und weiteren Stress-assoziierten Parameter feststellen. Sie fanden Hinweise auf eine gesundheitsfördernde Wirkung bei Krankheiten wie Bluthochdruck, Herzschwäche, chronischer Bronchitis (COPD) sowie bei chronischen Nackenschmerzen.

Man nimmt an, dass der gesundheitsfördernde Effekt des Waldes über alle fünf Sinne auf den Menschen einwirkt:

  • über das Sehen – den Anblick der grünen Farbtöne, des Sonnenlichts durch die Baumwipfel, des Wechselspiels von Licht und Schatten, des Anblicks mächtiger Bäume und schöner Pflanzen und Blüten;
  • über das Hören – den Gesang der Vögel, das Summen der Insekten, das Plätschern von Bächen und das Rascheln des Windes in den Bäumen oder von Laub unter den Füßen bei gleichzeitiger Abwesenheit des Verkehrslärms;
  • über den Geruchssinn – den Geruch des Waldbodens oder frischgeschlagenen Holzes;
  • über den Tastsinn – das Berühren von Baumrinde, weichem Moos, das Gefühl von Wind oder Sonne auf der Haut, die federnde Nachgiebigkeit des Waldbodens beim Gehen;
  • über den Geschmackssinn – den Geschmack von Bucheckern, Nüssen, Beeren, Wildkräutern, Harz oder Fichtennadeln, die man auch als Tee zubereiten kann.

Auf diese Weise scheint sich der Aufenthalt in Wäldern über die fünf Sinne ausgleichend auf das Gefühlsleben auszuwirken. Waldluft ist erfrischend, da die Bäume die Luft reinigen, frischen Sauerstoff produzieren und bioaktive Pflanzenstoffe, die Terpene, in die Luft abgeben. Terpene sind in den ätherischen Ölen enthalten, die einige Baumarten verströmen. Den Untersuchungen des japanischen Forschers Professor Qing Li zufolge scheinen Terpene das Immunsystem und die körpereigene Abwehr beispielsweise auch gegen Krebs zu stärken. Er empfiehlt für das Immunsystem Aufenthalte von jeweils mindestens drei Tagen und zwei Übernachtungen in einem Waldgebiet, möglichst einmal im Monat, mit Aufenthalten von circa vier Stunden pro Tag im Wald und Zurücklegen einer Strecke von ungefähr fünf Kilometern. Dabei ist es wichtig, auf die eigenen körperlichen Voraussetzungen Rücksicht zu nehmen. Bei Anzeichen von Müdigkeit sollte noch vor der Belastungsgrenze eine Pause eingelegt werden. Man sollte genügend Wasser oder Tee mitnehmen und auf eine ausreichende Trinkmenge achten. Zum Gehen darf man sich Zeit nehmen – schließlich ist ein Teil des gesundheitsfördernden Effekts die Stress-Reduktion – und an angenehmen Plätzen Rast machen, den Anblick genießen oder lesen. In Deutschland gibt es eine Vielzahl verschiedener Ansätze des so genannten „Waldbadens“. Einen besonders tiefen Zugang bietet das Shakti-Yoga. Shakti-Yoga bezeichnet die Jahrtausende alte, ursprüngliche Form des Yoga, aus der östliche Techniken wie Qi Gong, Hatha-Yoga und nachfolgend die meisten heute modernen Formen des Yoga entstanden sind. Aus der Verbundenheit zur Natur Stärke zu ziehen und innere Stabilität zu gewinnen, spielt im Shakti-Yoga seit jeher eine zentrale Rolle. Das Shakti-Yoga nutzt den Wald bewusster, tiefer und effektiver als für einfache Wanderungen oder Nordic Walking. Bewusste Übungen können den Effekt des Waldes intensivieren.

Es sind mehrere Schritte nötig, um heutige Menschen aus ihrem Alltag, der häufig mit Druck oder Stress behaftet ist, abzuholen und mit dem Wald und sich selbst in Verbindung zu bringen:

  1. Rationale Verbindung zum Wald herstellen
  2. Sinneswahrnehmung des Waldes
  3. Aufmerksamkeit auf das eigene Körpergefühl lenken
  4. Kontakt mit dem ursprünglichen Kind in uns
  5. Den Kontakt mit der Natur genießen und intensivieren
  6. Zurückfinden in die Alltagswelt

Ein Ziel des Shakti-Yoga ist, mit dem ursprünglichen Kind in uns in Kontakt zu treten. Das ursprüngliche Kind steckt in jedem von uns, ist aber verschüttet von Konditionierungen durch Eltern und Gesellschaft. Es verfügt über unbändige Energie und Lebensfreude, kindliche Neugier, Experimentierfreudigkeit und Begeisterungsfähigkeit. Es kann sich in den Moment versenken, in der Schönheit der Natur aufgehen; es ist verspielt. Das Shakti-Yoga möchte Menschen helfen, diese Qualitäten wiederzuerlangen und in ihr Alltagsleben zu integrieren. In der praktischen Anwendung hat es sich unserer Erfahrung nach bewährt, für den Aufenthalt mit einer Gruppe im Wald mehrere Stunden einzuplanen. Menschen, die aus ihrem normalen Alltag in den Wald kommen, brauchen ausreichend Zeit mit angeleiteter „Entschleunigung“, bis sie bereit sind, sich auf die Wahrnehmung der Natur einzulassen. Dazu sollten die Teilnehmenden im Augenblick ankommen und alles loslassen, was sie normalerweise glauben tun zu müssen. Für Leistungsdenken und feste Ziele ist hier nicht der richtige Ort. Gefühle innerer Verpflichtung beiseite zu lassen, müssen viele Menschen erst lernen. Ein sanfter Übergang vom rationalen Denken zu sinnlicher Wahrnehmung kann beispielsweise durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf einen besonderen Baum oder jahreszeitliche Veränderungen erreicht werden.

Das Betrachten jeweils einer bestimmten Farbe im Wald kann vom Denken zum Sehen überleiten. Durch Aufmerksamkeitsübungen wie langsames Gehen, bewusste Wahrnehmung jedes einzelnen Grashalms oder Kieselsteins, Achtsamkeit auf jeweils einen körperlichen Aspekt wie den Atem, den Kontakt der Fußsohlen mit dem Boden, peripheres Sehen ohne Fokussierung („weiche Augen“) lenkt man die Aufmerksamkeit schrittweise auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Diesem zentralen Schritt sollte man ausreichend Zeit widmen. Bei Menschen mit ADHS benötigt das Eintauchen in die Wahrnehmung des eigenen Körpers oft mehr Zeit. Als ein Schlüssel fungieren kreative Aufgaben mit Materialien des Waldes wie Blättern, Ästen, Rindenstücken, Steinen und Erde, aus denen Kunstwerke hergestellt werden, um den Kontakt zu sich selbst und zum Wald herzustellen. Sind die Teilnehmenden in einem guten Kontakt mit sich selbst angekommen, finden sie leichter Zugang zu Ihrem ursprünglichen Kind. Hierzu eignet sich die Vorstellung, man würde den Wald zum allerersten Mal sehen. Verspielt und voll kindlicher Begeisterung sieht man die Natur aus einem neuen Blickwinkel. Morgens glitzert der Tau auf den Grashalmen und Spinnennetzen in der Sonne wie aufgereihte Diamanten!

Im so erlangten Zustand können wir den Kontakt zu uns selbst und zur Natur durch die Methoden des Shakti-Yoga intensivieren. Herz-Atem beispielsweise ist eine Übung aus dem Shakti-Yoga, in der man die Energie der Natur durch das Herz einatmet und mit dem Ausatmen aus dem Herzen Liebe an die Natur zurückgibt. Diese und weitere Atem- und Energie-Übungen können eine liebevolle Verbindung zur Natur sowie zum eigenen Körper herstellen. Je nach Voraussetzungen und Entwicklungspotenzial der Teilnehmenden können Übungen wie die Chi Gymnastik, Yoga-Asanas, Qi Gong, Atem-Übungen sowie Meditationen zur Anwendung kommen. Eine klassische Technik der Zen-Meditation ist, die spiegelnde Oberfläche eines Sees für geistige Klarheit zu nutzen. Weitere Meditationstechniken sind beispielsweise, dem Vogelgezwitscher im Wald oder einem Wasserfall zuzuhören.

Die Möglichkeiten sind vielfältig und helfen, die Atmosphäre des Waldes noch bewusster aufzunehmen. Unser Körper versteht Bilder besser als Worte. Das Beobachten bestimmter Tierarten und die Vorstellung einer Übertragung ihrer Eigenschaften auf den eigenen Körper kann die Gesundheit des Körpers unterstützen. Ein Beispiel ist, bei Rückenschmerzen das Bild der Beweglichkeit von Raupen auf die eigene Wirbelsäule zu übertragen. Die Ruhe, Stabilität und Aufrichtigkeit von Bäumen nehmen wir in uns auf durch das Befühlen der Rinde, das Anlehnen an einen Baum mit dem Rücken im Stehen oder Sitzen oder das Umarmen eines Baumes. Wenn wir ziellos durch den Wald streifen, können wir bewusst den eigenen Körper und die Verbindung zu den Bäumen und Pflanzen wahrnehmen. Wir können auch Beeren, Nüsse und junge Tannen-Triebe probieren, aber nur, wenn wir sie genau kennen. Wer sich nicht auskennt, kann giftige Eiben mit Tannen verwechseln, Maiglöckchen mit Bärlauch oder Knollenblätterpilze mit Wiesen-Champignons, daher ist Vorsicht geboten.

Aus den jungen Sprossen von Fichten lässt sich ein leckerer Fichtennadel-Tee zubereiten. Wer will, gibt den ersten Schluck davon dem Wald zurück mit einem Gefühl der Dankbarkeit für seine Gastfreundschaft. Für den Rückweg und damit auch den Übergang zurück in die Alltagswelt sollte man ausreichend Zeit einplanen. Nach einem tiefen Kontakt mit dem Wald kann eine ganze Stunde dazu notwendig sein. Auf jeden Fall sollte kein Zeitdruck entstehen. Im entschleunigten Zustand eines kleinen Kindes nimmt ein Weg von einem Kilometer manchmal eine Stunde in Anspruch. Die Erfahrung zeigt: Je öfter man sich im Wald aufhält, desto stärker wird die Verbindung und desto leichter tritt man in Verbindung mit der Natur. Je stärker die Verbindung, desto schneller und besser die Wirkung. In der Arbeit mit einer Gruppe, die regelmäßig in den Wald eintaucht, bemerkt man, dass sich die Teilnehmenden mit zunehmender Erfahrung schneller und tiefer auf den Wald, die Meditationen und Übungen einlassen können.

Sie kommen schneller im Zustand des Seins an und sind eher bereit, rationale Gedanken beiseite zu lassen. Statt zu fragen, wie diese oder jene Pflanze heißt, statt ständig das Handy zu zücken, um zu fotografieren, sind sie eher bereit, das „Hier und Jetzt“ zu genießen. Das Leistungsdenken weicht Schritt für Schritt dem Motto „Sein statt Tun“. Häufig bekommen wir die Rückmeldung, dass die Teilnehmenden sich auch im Alltag ruhiger, entspannter und in besserem Kontakt mit sich selbst erleben. In der wissenschaftlichen Forschung gibt es verschiedene Ansätze, die Wirkung von Wäldern auf Menschen zu untersuchen. Unter anderem werden die einzelnen Faktoren, wie visuelle Eindrücke, Gerüche, Geräusche und die Wirkung von Terpenen isoliert erforscht. Diese Erkenntnis se können uns zu neuen Ideen verhelfen, wie wir die Wirkung des Waldes noch effektiver nutzen können.

Wahrscheinlich werden wir die Wirkung von Wäldern nie bis ins Detail mit wissenschaftlichen Methoden erfassen können. Jeder Einzelne von uns hat jedoch die Möglichkeit, die Wirkung von Wäldern am eigenen Leib und im eigenen Empfinden zu erfahren, mit dem Wald in Kommunikation zu treten, im Wald Heimat zu finden, aufzutanken und sich zu erholen.

Dr. med. Katja Oomen-Welke Fachärztin für Allgemeinmedizin, Homöopathie, Akupunktur in Todtmoos