MUSIK und GESUNDHEIT im Wandel der Zeit

Musik beeinflusst unseren Körper damals wie heute – egal, ob wir aktiv musizieren oder in den verschiedensten Lebenslagen passiv mit Musik in Berührung kommen. Die Wirkungen können positiv oder negativ sein: Musik kann heilen, trösten, Mut machen, Hoffnung geben und entspannen. Sie kann uns aber auch aufwühlen, belasten, aggressiv und wütend machen. Die faszinierende Wirkung der Musik vom Mittelalter bis in die Neuzeit Im Mittelalter mussten sich einfache Menschen, die Musik hören wollten und nicht auf einem Hof lebten, selbst ein Lied singen. Da nur wenige ein Instrument spielen konnten, freuten sie sich besonders über reisende Spielleute, die an den Höfen zur Unterhaltung und zum Tanz auftraten. Das Instrumentarium bestand aus Trommeln, Leiern, Fideln und Flöten – natürlich zu 100 % live und ohne Verstärkung. Musiker war damals noch ein ganz normaler Berufsstand, genau wie Schuhmacher, Bäcker oder Metzger. Man bezahlte sie mit Mahlzeiten oder Kleidern. Das hat sich bis heute nicht geändert. Geben Sie mal ’ner Sängerin die Gage in bar: Was glauben Sie, was sie damit macht? Ab dem 17. Jahrhundert schufen die afrikanischen Sklaven, die in die USA verbracht wurden, mit ihren „Worksongs“ einen eigenen Musikstil. Die Lieder sollten der Ablenkung von der harten Arbeit dienen und das Durchhaltevermögen steigern. Wie viel Kraft und Energie in dieser Musik steckt, können wir dank der vielen Gospelchöre in Deutschland noch heute erleben. Wer ein solches Konzert besucht, wird automatisch mitgerissen und sofort ein Teil der Gemeinschaft. Als der Naturheilverein Pforzheim vor 125 Jahren gegründet wurde, hat sich noch niemand wirklich Gedanken darüber gemacht, wie sich Musik auf die Gesundheit auswirkt. In diese Zeit fiel die Erfindung des Radios: 1906 gab es die erste Radioübertragung, 1916 das erste Hörfunkprogramm. Erstmals konnte Musik einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden. Die Leute hörten „My Bonnie Is Over The Ocean“ (1881), „The Entertainer“ (1902), „O Tannenbaum“ (1907), „Stille Nacht“ (1911), „O Sole Mio“ (1916). Es folgten die beiden Weltkriege, in denen Musik auf die vielfältigste Weise zum Einsatz kam: Einerseits Schlachtgesänge und Marschmusik, um der Truppe Kraft zu geben und den Zusammenhalt zu stärken, andererseits Musik zum Trösten und Beruhigen, wenn ein Kamerad gefallen war oder einen das Heimweh überkam. Tausende saßen allabendlich vor den Radios und warteten auf das bekannte Lied der Soldaten „Lili Marleen“. Zugleich wurde Musik zunehmend kommerzialisiert, sodass ein moderner Industriezweig entstand. Der Mund- und Handharmonikahersteller HOHNER aus Trossingen beschäftigte um 1939 über 5.000 Mitarbeiter und erzielte Rekordumsätze in Europa und vor allem auch in Russland. Nach Kriegsende kam immer mehr amerikanische Musik über den Atlantik nach Deutschland. Elvis Presley brachte gleich ein ganz neues, positives Lebensgefühl mit. Dann wurde die Musik immer lauter, härter, schriller und aggressiver: Die Rolling Stones lösten Wellen der Begeisterung aus, anschließend die Beatles. Es wurde mit Verstärker gespielt und die Fans in eine Art Trance versetzt. In den 70er-Jahren kamen ABBA, die BeeGees, Michael Jackson...

Musik im Gefangenenlager Guantánamo

Durch Radio und Fernsehen vergrößerte sich zwar der musikalische Horizont. Mit dem Einsatz von Verstärkern und Lautsprechern und die dadurch gewonnene Lautstärke zeigten sich aber auch immer mehr Gehörprobleme und allgemeine Gesundheitsbeeinträchtigungen. Wer mehrere Stunden laut Heavy-Metall-Musik hört, kann nicht mehr klar denken. Man gelangt in einen Rauschzustand, bald darauf sind echte Schmerzen zu spüren. Im US-Gefängnis Guantánamo benutzen Verhörexperten Musik heute noch gezielt als Folterinstrument. Auf der Hitliste stehen Titel von Bruce Springsteen, Metallica und AC/DC, aber kurioserweise auch die Titelmelodie der Sesamstraße. Die Gefangenen zerbrechen an der permanenten Beschallung und der ständigen Wiederholung ein und desselben Songs. Die Künstler wehren sich gegen die Zweckentfremdung ihrer Musik – bislang ohne Erfolg.

Musik kann eingesetzt werden, um unser Verhalten gezielt in bestimmte Bahnen zu lenken. Im Kaufhaus hören wir ruhige Lounge-Musik beim Klamottenkauf, in der Rotwein- und Käseabteilung dagegen häufig französische Klänge. Selbst im Fußballstadion versuchen wir durch Schlachtgesänge, unsere Mannschaft zu motivieren und zu Höchstleistungen anzustacheln.

Die Mutter beruhigt ihr Kind mit Liedern zum Einschlafen, zum Trost oder gegen Ängste. Regisseure untermalen Filme mit ausgewählter Musik, um die jeweilige Stimmung beim Zuschauer zu verstärken. Botaniker empfehlen Mozart, Haydn und Vivaldi, um das Pflanzenwachstum anzuregen. Landwirte bespielen Hühner, damit sie mehr Eier legen; Kühe, damit sie mehr Milch geben. Vögel pfeifen, um ihr Revier zu verteidigen oder um Partner anzulocken. Wale komponieren eigene Musikstücke. Gibbons singen im Duett. Kurzum: Musik lässt niemanden kalt. Jedes Lebewesen reagiert auf Musik.

Die historischen Erkenntnisse der Musikmedizin

Diese Erkenntnis steht am Anfang der Musikmedizin. Die heilende Kraft der Musik ist dem Grunde nach seit dem 13. Jahrhundert anerkannt, als Musik zum Pflichtfach bei der Medizinerausbildung wurde. Doch die eigentlichen Anfänge liegen noch weitaus weiter zurück. Überlieferungen aus dem antiken Griechenland belegen, dass schon Pythagoras eine Art Musiktherapie betrieb. Auch arabische Ärzte ließen Harfenspieler, Lautenschläger und Trommler in ihren Krankenhäusern musizieren. Im italienischen Neapel war Musik in Hospitälern über lange Zeit eine Selbstverständlichkeit. Man ging davon aus, dass bei einem kranken Menschen nicht nur der Körper, sondern gleichzeitig auch der Geist erkrankt ist. Als im 19. Jahrhundert der Siegeszug der modernen Medizin begann, trennten sich die Wege von Musik und Heilkunst. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm das wissenschaftliche Interesse wieder zu.

Physiologische Untersuchungen zeigen heute den Einfluss von Musik auf Atem, Herz und Kreislauf. Klavierspielen fördert die Hirnaktivität und schafft neue Vernetzungen zwischen den beiden Gehirnhälften. Mundharmonikaspielen stärkt die sog. mimische Muskulatur und kann bei der Regeneration nach Schlaganfällen helfen, erhöht aber auch grundsätzlich die Lungenkapazität und reguliert Herzfrequenz und Blutdruck. Musik hilft Alzheimerpatienten, scheinbar vergessene Erinnerungen und Emotionen wiederzubeleben. Wenn sprechen nicht mehr möglich ist, bleibt Musik als Kommunikationsmittel. Depressive Menschen schöpfen durch Musiktherapie neue Lebensenergie und entwickeln mehr Selbstvertrau en. Die Beispiele könnte man unendlich weiterspinnen. Heute sind diese Zusammenhänge nur noch wenigen bekannt. Der ureigenste Sinn der Musik ist in Vergessenheit geraten. Dabei zeigt doch die Geschichte, dass Musik mehr ist als seichte Unterhaltung. Sie ist Heilmittel.

Musiktherapie ist zwar jedem ein Begriff. Der Schwerpunkt liegt bei Psychotherapie und Improvisation, häufig zusammen mit Tanz, Bewegung, Malen oder anderen künstlerischen Ausdrucksformen. Aber das Bewusstsein für alles Weitere, was mit Musik tatsächlich möglich ist, ist in der Gesellschaft verblasst. Wir hoffen also auf eine Renaissance der Musikmedizin; auf mehr Beachtung für die natürliche Verbindung zwischen Musik und Gesundheit.

J. S. Bachs Goldbergvariationen gegen Schlafstörungen? Eine Anekdote zum Schluss: Teilweise wird bestimmten Musikstücken eine gesundheitsfördernde Wirkung zugesprochen. Antonio Vivaldis „Die 4 Jahreszeiten“ soll einen regelrechten Energieschub erzeugen, die „Goldbergvariationen“ von J.S. Bach gegen Schlafstörungen helfen und Franz Schuberts „Die Unvollendete“ Stress abbauen und psychische Blockaden lösen. Nach meinem Dafürhalten muss aber jeder für sich selbst herausfinden, welche Musik ihm in welcher Lebenssituation guttut. Seien Sie mutig, probieren Sie neues aus. Möglichkeiten gibt es genug: Afrikanisches Trommeln und Singen zur Entspannung (RelaxSing) sind Angebote, die Ihnen nahezu überall offenstehen. Trommeln erfüllt den Menschen mit intensiver Energie und Dynamik. Wir tauchen ein in eine andere Welt, vergessen alles um uns herum und tanken neue Lebenskraft. Genau das verspüren wir auch beim heilsamen Singen: Wenn einer aus seiner Seele singt, heilt er zugleich seine innere Welt. Wenn alle aus ihren Seelen singen und eins sind in der Musik, heilen sie zugleich auch die äußere Welt. Was der Geiger Yehudi Menuhin mit diesem Zitat zum Ausdruck brachte, kann jeder erleben. Dabei ist es gleichgültig, wann man damit anfängt. Denn eines steht fest: Es ist nie zu spät für einen neuen Weg.

Walter Seitz engagiert sich dafür, Menschen aller Altersstufen an die Musik heranzuführen und diese für jeden erlebbar zu machen. Dazu gehört, individuelle musikalische Anlagen zu wecken und spielerisch weiterzuentwickeln. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet er als Musikpädagoge, Entspannungscoach, Buchautor und Verleger zahlreicher Schulmaterialien. Zudem ist er regelmäßig für das Musik-und Entspannungsprogramm auf Kreuzfahrtschiffen, wie dem aktuellen ZDF-Traumschiff gebucht.