Die zeitlose Botschaft der Heilkunst: Das Wunder im eigenen Selbst. Gedanken zur Natur- und Kulturheilkunde

Die Heilkraft der Kultur: Die Kraft unseres Geistes und Bewusstseins nutzen! Selbst in Notzeiten bleibt das, was wir Kultur nennen, d.h. die Bereiche, die Menschen durch ihren Geist selbst geschaffen haben. Dazu gehören zwar auch technische Artefakte (bis hin zu technischen Instrumenten in der Medizin), aber den Kern von Kultur in unserem Verständnis bilden Werte […]

Die Heilkraft der Kultur: Die Kraft unseres Geistes und Bewusstseins nutzen!

Selbst in Notzeiten bleibt das, was wir Kultur nennen, d.h. die Bereiche, die Menschen durch ihren Geist selbst geschaffen haben. Dazu gehören zwar auch technische Artefakte (bis hin zu technischen Instrumenten in der Medizin), aber den Kern von Kultur in unserem Verständnis bilden Werte und Normen, das Schöne und die Kunst sowie Muße und das Spiel bzw. Spielerische – also all das, was außerhalb einer einengenden Zweckrationalität und Intentionalität entstanden ist. So verstanden ist Kultur sowohl eine innere Haltung als auch eine bewusste Gestaltung im Außen im Kontext von Geist und Bewusstsein der Menschen. Ich benutze hier das Wort Kulturheilkunde. Eine solche Heilkunde, die aus den Mitteln der Kultur schöpft, stärkt den Barfußarzt in einer Notsituation in seiner Haltung und versorgt ihn mit mentalen und künstlerischen Wirkmitteln, die die Mittel der Naturheilkunde sinnvoll ergänzen können.

Diese Ergänzung ist deswegen von so großer Bedeutung, da der Mensch als Naturwesen eigentlich ein Mängelwesen ist: Er braucht Kultur zum Überleben. Menschen sind, wenn man sie im Vergleich mit einigen Tieren betrachtet, weder besonders stark noch schnell, sie sind von Natur aus nicht unbedingt optimal ausgestattet und auch nicht besonders widerstandsfähig. Sie können dies aber kompensieren durch ihre „zweite Natur“: die Kultur. Dadurch, dass sie sich zusammenschließen, teilen und gemeinsam etwas tun, erobern sie sich sogar eine Art Vormachtstellung, wobei wohl von besonderer Bedeutung die sogenannte „geteilte Intentionalität“ und das „kooperative Handeln“ sind.


„Wer kann leugnen, daß es Wunder und Wunderheilungen gibt? – Aber was sind sie anders als Wirkungen des festen Glaubens entweder an himmlische Kräfte, oder auch an irdische und folglich Wirkungen des Geistes?“

Möglich wird dies durch das, was wir Geist und Bewusstsein nennen sowie durch Sprache, Information und Kommunikation. Menschen können sich untereinander abstimmen, gezielt und auch langfristig planen sowie Werkzeuge herstellen. Kultur und Technik ermöglichen Menschen das Überleben in einer Umgebung, die für sie zunächst eine große Herausforderung darstellt. Hinsichtlich Krankheit und Schwäche können Menschen schon sehr früh ihre verletzten bzw. erkrankten Stammesgenossen schonen und schützen sowie pflegen und schließlich sogar den Heilungsprozess aktiv unterstützen durch diverse Heilmittel (Pflanzen, Artefakte, rituelle Handlungen etc.) und den Bau spezieller Heilstätten.

Als erste Heilstätten entstanden im antiken Griechenland die Asklepieia, die gleichzeitig auch Kulturorte waren. Das mächtigste Wirkmittel der Heilung war dort das Wort – Heil- und Redekunst gehörten zusammen. Dies wird sehr schön in einem überlieferten Gesang zum Ausdruck gebracht: λόγος = φάρμακον = ἰατρός.[1] Diese Worte, die eine Art Mantra bilden, bedeuten in der Übersetzung: Das Wort ist das Heilmittel und das Heilmittel ist der Arzt. Zum Verständnis dieses Mantras gehört der sogenannte „Dreischritt der antiken Diätetik“: Der Heilkundige hatte zunächst auf den Lebensstil des Kranken einzuwirken, was nur über das Wort bzw. durch Kommunikation möglich war. Erst wenn dies alleine nicht half, wurden im zweiten Schritt Heilpflanzen hinzugezogen, die aber auch in einem kommunikativen Kontext verabreicht wurden. Das Messer, d.h. chirurgische Interventionen, waren einem dritten Schritt vorbehalten, wenn auch die Heilpflanzen nicht mehr halfen. Aber genau in dieser Reihenfolge: Zuerst das Wort, dann die Arznei und erst dann das Messer! In der modernen Medizin scheint es heute, dass die Reihenfolge bisweilen genau umgekehrt wird. Vielleicht nicht unbedingt zum Wohle des kranken Menschen…

Für einen gesunden Lebensstil konnte der Mensch in der Antike sich übrigens an sehr einfachen Prinzipien orientieren, die besonders gut in drei Inschriften am Tempel von Delphi zum Ausdruck kommen:

• Erkenne dich selbst!
• Nichts im Übermaß!
• Du bist! Sei, der du bist!

Durch die Befolgung dieser drei Imperative ließ und lässt sich ein gutes und gesundes Leben realisieren. So geht es zunächst um die Selbsterkenntnis, wozu auch das Wissen um die eigene Sterblichkeit gehört: „Wisse Mensch, dass du sterben wirst.“ Alles Lebende galt als sterblich. Gaia, die Mutter Erde in der griechischen Mythologie, wachte strikt darüber. Unsterblichkeit gab es für Menschen nicht. Und diese Situation des Menschen, dass er sich seiner Sterblichkeit bewusst ist, bedarf ja einer Erklärung bzw. Sinngebung, wozu Kulturen mit ihren vielfältigen Möglichkeiten in der Lage sind. Ist sich nun der Mensch seiner selbst und seiner Begrenztheit bewusst, so scheint das Leben umso kostbarer und lebenswerter. Die zweite und dritte Inschrift lehren daher die Selbstfürsorge: „Nichts im Übermaß“ bedeutet, dass alles sein eigenes Maß und auch seine Grenzen hat, dass wir nichts übertreiben sollen, die Balance das beste Maß ist, Harmonie für ein gutes und gesundes Lebens unverzichtbar ist. Und die Inschrift „Du bist!“ bzw. „Sei, der du bist!“ bedeutet vielleicht, dass wir im Hier-und-Jetzt leben sollen und unser eigenes Leben mit Achtsamkeit genießen sollen. Dadurch und insgesamt durch eine gute Selbstfürsorge kommt der Mensch dann zu dem, was wir heute Selbstwirksamkeit nennen, d.h. er erfährt, dass er durch sein eigenes Handeln zu seiner Gesundung und einem guten Leben beitragen kann, was ihn wiederum bestärkt, diesen Lebensstil weiter zu verfolgen. Durch das mit der Selbstwirksamkeit verbundene positive Gefühl erhält dann die Selbstregulation des selbstwirksamen Menschen kräftige Impulse, so dass Selbstheilung geschehen kann.


„Heilkunst ist Haltung im Innen und Gestaltung im Außen.“

Die Inschriften am Tempel von Delphi sind frühe Beispiele für eine Art „hygienische“ Funktion von Kultur. Der Philosoph Ivan Illich hat dazu in seiner „Nemesis der Medizin“ darauf hingewiesen, dass ursprünglich jede Kultur „ein Gefüge von Einstellungen zu Schmerz, Krankheit, Schwäche und Tod“ entwickelt und damit eine Art hygienische Funktion erfüllt hat. Des Weiteren zeigt er, dass traditionelle Kulturen Mittel und Praktiken entwickelt haben „um Schmerz erträglich, Krankheit oder Schwäche verstehbar und den Schatten des Todes sinnvoll zu machen“.[2] Kulturen können ein solches „Warum“ aber nicht nur auf die grundsätzlichen Fragen des Lebens geben, sondern vor allem und gerade auch auf Herausforderungen in Krisensituationen. Kulturen sind nämlich nichts anderes als Sinn- und Bedeutungsgeber für menschliche Gemeinschaften. Sie ermöglichen auch in Notsituationen Orientierung und geben die erforderliche Kraft zur Bewältigung von Problemen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat dies in einem Satz so ausgedrückt: „Hat man sein Warum des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem Wie.“[3]

Das Wunder in unserem eigenen Selbst: Selbstwirksamkeit stärken und Selbstheilung anstoßen!

Kulturen als Sinn- und Bedeutungsgeber sind gerade in Notsituationen und für kranke Menschen von allergrößter Bedeutung. Sie beeinflussen innere Einstellungen des Kranken, die wiederum den Prozess der Selbstheilung fördern oder behindern können. Darüber hinaus können die Gestaltung heilender Umgebungen sowie die Unterhaltung durch Kunst und Musik, das liebevolle Gespräch und menschliche Zuwendung kulturelle Heilreize bilden.

„Innere Einstellungen“ „und „innere Bilder“ der Heilsuchenden entscheiden darüber, ob Heilung geschehen kann bzw. die Selbstheilungskräfte angeregt werden können. Heilung in diesem Verständnis ist ein ganz natürlicher Prozess und ein Wunder zugleich. Dieses Wunder geschieht in unserem eigenen Selbst als Selbstheilung. Heilung wird dabei nicht gemacht, sondern sie geschieht. Sie stellt sich ein, wenn alles passt. Jede Form von Heilkunst, auch die moderne Medizin, kann letztendlich nur Anstöße geben, dass dieses Wunder in uns stattfinden kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Dabei sollen die unglaublichen Erfolge der modernen Medizin keineswegs klein geredet werden. Denn es ist natürlich in vielerlei Hinsicht segensreich, dass wir die moderne Medizin haben – und wir brauchen sie auch. Insbesondere bei Unfällen und Verletzungen sowie bei akuten und lebensbedrohenden Krankheiten ist sie unverzichtbar. Aber wir sind klug beraten, wenn wir nicht vergessen, was wir jenseits dieser Errungenschaften als Heilkraft in uns selbst haben – wenn zum Beispiel der Strom ausfällt oder andere Notsituationen entstehen, in denen die technischen Artefakte der Medizin nicht mehr zum Einsatz kommen können. Möglicherweise ist das Nachdenken über eine Barfußmedizin sogar sinnvoll und notwendig, um wieder zu verstehen, was die Essenz der Heilkunde eigentlich ist. Vielleicht lässt sich die Versorgung kranker Menschen sogar verbessern, wenn wir auch das Metier der Barfußmedizin kennen und anwenden können.


„Was bleibt, wenn gar nichts mehr geht? Keine Medikamente, keine Operationen? Keine Technik? Präsenz, Liebe und Zuwendung als Kern der Heilkunst!“

Zu einer guten Barfußmedizin gehören nicht nur Barfußärzte, sondern eine Schlüsselrolle liegt letztendlich bei dem kranken Menschen selbst, der auch „barfuß“ sehr viel für sich und seine Heilung anstoßen kann. Denn: „Jede Heilung ist Selbstheilung und Selbstheilung ist mit Hilfe der Vorstellungskraft erlernbar“ – wie es der Psychotherapeut Gary Bruno Schmid auf den Nenner gebracht hat.[4] Über seinen Geist und sein Bewusstsein „entscheidet“ der kranke Mensch zu einem wichtigen Teil mit, ob es in Richtung Heilung oder in Richtung Krankheit weitergeht.

Ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten von Heilung durch die Kraft der Vorstellung ist der große Philosoph Immanuel Kant. In einer Schrift[5] , die nur wenig bekannt geworden ist, beschäftigt er sich mit der „Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz, seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“. Entstanden ist diese kleine Schrift auf Wunsch von Christoph Wilhelm Hufeland, dem damaligen Direktor der Berliner Charité. Hufeland bat den berühmten Zeitgenossen für sein Hauptwerk „Die Makrobiotik“, das ursprünglich den Titel „Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ hatte, um ein Vorwort, das die Lebenserfahrungen des Philosophen beinhalten sollte. Kant, der damals schon sehr alt war, kam dem Wunsch von Hufeland nach und hat bemerkenswerte Selbstbeobachtungen mitgeteilt. Drei Beispiele seien hier zitiert, die besonders eindrucksvoll zeigen, wie Kant seine eigenen krankhaften Zustände erfolgreich bewältigte.

Im ersten Beispiel geht es vermutlich um Herzrhythmusstörungen, die Kant zwar zeitlebens beschäftigten, ihn aber zu einer wirksamen Bewältigungsstrategie führten:

„Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum läßt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruß des Lebens grenzte. Aber die Überlegung, daß die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, daß ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, daß ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopfe doch Ruhe und Heiterkeit herrschte, die sich auch in der Gesellschaft, nicht nach abwechselnden Launen (wie Hypochondrische pflegen), sondern absichtlich und natürlich mitzuteilen nicht ermangelte. Und da man des Lebens mehr froh wird durch das, was man im freien Gebrauch desselben thut, als was man genießt, so können Geistesarbeiten eine andere Art von befördertem Lebensgefühl den Hemmungen entgegensetzen, welche bloß den Körper angehen. Die Beklemmung ist mir geblieben; denn ihre Ursache liegt in meinem körperlichen Bau. Aber über ihren Einfluß auf meine Gedanken und Handlungen bin ich Meister geworden, durch Abkehrung der Aufmerksamkeit von diesem Gefühle, als ob es mich gar nicht anginge.“

Im zweiten Beispiel geht es um einen Gichtanfall, der Kant zunächst das Einschlafen unmöglich machte. Er interveniert durch eine Technik der Fokussierung seiner Aufmerksamkeit auf ein philosophisches Thema: „Nun aber, aus Ungeduld, am Schlafen mich gehindert zu fühlen, griff ich bald zu meinem stoischen Mittel, meinen Gedanken mit Anstrengung auf irgend ein von mir gewähltes
gleichgültiges Objekt, was es auch sei (z. B. auf den viel Nebenvorstellungen enthaltenden Namen Cicero), zu heften: mithin die Aufmerksamkeit von jener Empfindung abzulenken;
dadurch diese dann, und zwar schleunig, stumpf wurden, und so die Schläfrigkeit sie überwog, und dieses kann ich jederzeit, bei wiederkommenden Anfällen dieser Art in den kleinen Unterbrechungen des Nachtschlafs, mit gleich gutem Erfolg wiederholen. Daß aber dieses nicht etwa bloß eingebildete Schmerzen waren, davon konnte mich die des andern Morgens früh sich zeigende glühende Röte der Zehen des linken Fußes überzeugen. – Ich bin gewiß, daß viele gichtische Zufälle, wenn nur die Diät des Genusses nicht gar zu sehr dawider ist, ja Krämpfe und selbst epileptische Zufälle (nur nicht bei Weibern und Kindern, als die dergleichen Kraft des Vorsatzes nicht haben), auch wohl das für unheilbar verschriene Podagra, bei jeder neuen Anwandlung desselben durch diese Festigkeit des Vorsatzes (seine Aufmerksamkeit von einem solchen Leiden abzuwenden) abgehalten und nach und nach gehoben werden könnte.“

Schließlich geht es im dritten Beispiel um Schnupfen und Husten, wobei Kant selber vom „Atemziehen“ zur „Hebung und Verhütung krankhafter Zufälle“ spricht:

„Ich war vor wenigen Jahren noch dann und wann vom Schnupfen und Husten heimgesucht, welche beide Zufälle mir desto ungelegener waren, als sie sich bisweilen beim Schlafengehen zutrugen. Gleichsam entrüstet über diese Störung des Nachtschlafs entschloß ich mich, was den ersteren Zufall betrifft, mit fest geschlossenen Lippen durchaus die Luft durch die Nase zu ziehen: welches mir anfangs nur mit einem schwachen Pfeifen, und da ich nicht absetzte, oder nachließ, immer mit stärkeren, zuletzt mit vollen und freien Luftzuge gelang, es durch die Nase zu stande zu bringen, darüber ich dann sofort einschlief. – Was dieses gleichsam konvulsivische und mit dazwischen vorfallenden Einatmen (nicht wie beim Lachen ein kontinuiertes, stoßweise erschallendes) Ausatmen, den Husten betrifft, vornehmlich den, welchen der gemeine Mann in England den Altmannshusten (im Bette liegend) nennt, so war er mir um so mehr ungelegen, da er sich bisweilen bald nach der Erwärmung im Bette einstellte und das Einschlafen verzögerte. Dieses Husten, welches durch den Reiz der mit offenen Munde eingeatmeten Luft auf den Luftröhrenkopf erregt wird, nun zu hemmen, bedurfte es einer nicht mechanischen (pharmazeutischen), sondern nur unmittelbaren Gemütsoperation, nämlich die Aufmerksamkeit auf diesen Reiz dadurch ganz abzulenken, daß sie mit Anstrengung auf irgend ein Objekt (wie oben bei krampfhaften Zufällen) gerichtet und dadurch das Ausstoßen der Luft gehemmet wurde, welches mir, wie ich es deutlich fühlete, das Blut ins Gesicht trieb, wobei aber der durch denselben Reiz erregte flüssige Speichel (saliva) die Wirkung dieses Reizes, nämlich die Ausstoßung der Luft, verhinderte und ein Herunterschlucken dieser Feuchtigkeit bewirkte. – Eine Gemütsoperation, zu der ein recht großer Grad des festen Vorsatzes erforderlich, der aber darum auch desto wohlthätiger ist.“

Diese Beispiele zeigen, dass Kant über wirksame Techniken verfügte, bestimmte krankhafte Symptome mit der Kraft der Vorstellung zu bewältigen und auf diese Weise in die Selbstwirksamkeit zu kommen – ohne medizinische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Es stellt sich nun die Frage, ob die von Kant beschriebenen Techniken in die Kategorie Wunder gehören oder ob sie erklärbar und damit auch übertragbar sind. Mit dem Thema „Wunder“ hat sich in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts innerhalb der modernen Medizin wohl niemand so intensiv beschäftigt wie Erwin Liek in seinem Buch „Das Wunder in der Heilkunde“. Erwin Liek war einer der berühmtesten Ärzte der Weimarer Republik; neben August Bier und Ferdinand Sauerbruch gehörte er zu den international bedeutendsten Chirurgen seiner Zeit und war u.a. auch Mitherausgeber der renommierten „Münchner Medizinischen Wochenschrift“. Er hat viel publiziert – als kritischer Beobachter der eigenen Zunft auch ein Buch mit dem Titel „Irrwege der Chirurgie“. Geärgert hat er sich aber auch über sogenannte Wunderheiler, von denen es in der Weimarer Republik sehr viele gab. Das Heilpraktikergesetz gab es zu dieser Zeit noch nicht und als verantwortungsbewusster Arzt wollte Liek Zeitgenossen aufklären und warnen. Seinem Buch zu Grunde lag darüber hinaus vermutlich noch einerseits der Wunsch, zu prüfen, was es mit diesen Heilern auf sich hatte; andererseits aber auch eine Art Kränkung, dass Wunderheiler so großen Zulauf hatten und zumindest teilweise in den Augen der Patienten auch sehr erfolgreich waren. So reiste er herum und dokumentierte zumindest das Schaffen von drei Heilern sehr detailliert. Dennoch ist sein Buch keineswegs eine Abrechnung mit diesen Wunderheilern, sondern eher ein Appell an die Schulmediziner, von diesen zu lernen.

Wegweisend ist seine Auseinandersetzung mit dem, was wir Wunder nennen: „Wunder nennen wir das, was wir in seiner Wirksamkeit nicht durchschauen. So wie wir es durchschauen, hört das Wunder auf.“ Er spricht vom „Wunder des Lebens“ und führt aus: „Hinter aller Materie steckt der Geist, und dieses Irrationale, Metaphysische ist das, was wir ‚Leben‘ nennen.“ „Eine Heilkunst ohne Irrationales ist undenkbar.“ (S. 141)

Liek beschäftigt sich in seiner Schrift sehr kritisch auch mit der Chirurgie und thematisiert bereits damals das „Wirken des Wirkungslosen“, was später als Placebo bezeichnet worden ist. So heißt es bei ihm, dass man „als Chirurg bestimmte Dinge machen kann, die eigentlich keinen Sinn ergeben, aber trotzdem einen heilsamen Effekt haben. Will man das dann aber reproduzieren oder versucht ein anderer das nachzumachen, so geht der Effekt verloren.“

Ausführlich beschäftigt sich Liek mit der Warzenheilung und zitiert die Fachliteratur seiner Zeit: Mit Belegen aus angesehenen medizinischen Fachzeitschriften der damaligen Zeit kann er nachweisen, dass Warzenbesprechungen durchaus erfolgreich sind. Gleichzeitig klärt er auf, worum es dabei geht: „Es kommt also nur darauf an, die Psyche des Kranken irgendwie zu erregen, die Tiefenseele empfänglich zu machen für Befehle, die über das Großhirn an sie gelangen.“

Liek folgerte daraus, dass wir „mit naturwissenschaftlichem Denken allein nicht aus(kommen)“ und der Arzt eigentlich eine Art Künstler sein sollte: „Das ärztliche Künstlertum ist Menschenkenntnis, Menschenbeurteilung, unbefangenes, naturgebundenes Einfühlen in den Kranken und seine Umgebung, Brückenschlagen von Seele zu Seele. Mit Wissenschaft allein ist das nicht zu machen.“ Versöhnend meint er schließlich in einem Appell an seine Zeitgenossen: „Das Eine tun, das Andere nicht lassen. So sehe ich den Arzt als Wissenschaftler, Forscher, Techniker, Menschenkenner und Künstler“. Und er empfiehlt den Ärzten der Weimarer Republik schließlich: „Geht zu den Scharlatanen und lernt von ihnen“. Für den Barfußarzt sollte dies eine Selbstverständlichkeit sein.

Die „Fünf S“ und der Vale(b)o-Effekt: Von der Selbsterkenntnis über die Selbstfürsorge und Selbstwirksamkeit zur Selbstvergessenheit und Selbstheilung

Ich komme nun zurück auf den eingangs bereits zitierten Ausblick auf die Medizin im Jahr 2030 von Axel Haverich und schließlich auf die Metapher vom Segelboot. Haverich geht optimistisch davon aus, dass wir 2030 die genauen Pathomechanismen der meisten Krankheiten kennen und spezifische Therapien verfügbar machen können. So weit so gut! Dennoch scheint etwas anderes wichtiger zu sein: „Der größte volkswirtschaftliche Gewinn würde sich aber ergeben durch intensive Förderung präventiver Maßnahmen, die nach Analyse der heutigen Situation durch edukative Programme für Bürger aller Altersklassen bereitgestellt werden müssten“ (Hervorhebungen durch H.S.). Deutlich wird aus diesen Hinweisen bei Haverich, dass ein Paradigmenwechsel in der Medizin ansteht in Richtung Prävention und einer besseren Einbindung der Menschen, so dass sie erst gar nicht zu Patienten werden müssen. Das alte Narrativ vom kranken Menschen als Patienten hat vielleicht sogar ausgedient und kann abgelöst werden von dem neuen Narrativ des kranken Menschen als Agenten.[6] In diesem neuen Narrativ sind kranke Menschen selber die wichtigsten Experten für ihre Gesundheit und ihren Lebensstil – Ärzte und Therapeuten begleiten sie dabei und geben Anstöße.


Wieder zurück zu unserer Eingangsfrage: “Was haben nun das Segelboot und unsere Gesundheit gemeinsam?”

In unserem Szenarium vom Stromausfall würde dieses sich gerade erst andeutende neue Narrativ einen starken Anstoß bekommen, da das alte Narrativ mit seinem Bild des kranken Menschen als Konsumenten keine Basis mehr hätte. Gefragt wären in einer solchen Situation nicht zuletzt die „Fünf S“, die ich Ihnen bereits vorgestellt habe:

• Selbsterkenntnis
• Selbstfürsorge
• Selbstwirksamkeit
• Selbstvergessenheit
• Selbstheilung

In diesem neuen Narrativ kennt der kranke Mensch seine Grenzen und Möglichkeiten, er sorgt für sich selbst und geht achtsam mit sich um, traut sich sein eigenes Leben zu leben, so dass er spürt, dass er mit seiner Haltung und seinem Handeln die Qualität seines Lebens wirksam mitgestalten kann. Die Freude am Gelingen führt ihn in einen Zustand, in dem der Körper mehr oder weniger „schweigt“ bzw. vollständig in Resonanz ist – alles passt und genügt, so dass das Sein einfach genossen werden kann. In diesem (temporären) Zustand der Selbstvergessenheit kann Selbstheilung am besten geschehen. Wenn sie geschieht, so stärkt sie wiederum das Erleben von Selbstwirksamkeit und beeinflusst die Selbsterkenntnis, die ihrerseits wieder die Selbstfürsorge anstößt, so dass der gesamte Prozess wie in einer Spirale ablaufen kann.

Möchte man diesen Prozess der „Fünf S“ in einem Wort zusammenfassen, so bietet sich der Begriff „Valebo-Effekt“ an, der allmählich in der Heilkunde Fuß zu fassen scheint. Professor Matthias Keidel, Präsident des Deutschen Schmerzkongress 2017, hat ihn in einem Interview zur Patientenmitsprache[7] verwendet und versteht darunter die Anregung des Patienten zur Selbstwirksamkeit und zur Verantwortung. Das Wort selbst geht auf das Verb valere im Lateinischen zurück und bildet in dieser Form das Futur I Aktiv, so dass folgende Bedeutungen in Frage kommen: Ich werde geltenIch werde Einfluss habenIch werde gesund sein Ich werde mich wohl fühlen. Damit sind Qualitäten angesprochen, die für den Prozess der Heilung außerordentlich wichtig sind und viel mit Affirmationen und Imaginationen gemein haben.[8]  Der Arzt sollte dies in der Behandlung und Beratung von kranken Menschen sowohl fördern als auch nutzen, so dass – ähnlich dem Placebo – ein „Vale(b)o-Effekt“ entstehen kann: Die Vorstellung von Selbstwirksamkeit stößt die Selbstheilung an und ermöglicht so weitere Selbstwirksamkeitserfahrungen.

Die Bedeutung eines solchen „Vale(b)o-Effektes“ wird deutlich, wenn wir noch einmal auf die Metapher des Segelbootes zurückkehren. Unsere Ausgangsfrage war ja, wann man heute beim Segeln einen Außenbordmotor braucht. Ein solcher wird bei Segelbooten ja nur als Hilfsantrieb eingesetzt: beim Manövrieren im Hafen oder um eine Flaute zu überbrücken. Ansonsten definiert sich ein Segelboot ja geradezu dadurch, dass es in erster Linie durch Windkraft betrieben wird. Hat man genügend Wind, so braucht ein guter Segler zumindest außerhalb des Hafens wohl nur in Notsituationen den Außenbordmotor. Was das Segelboot betrifft, so hat die Natur uns eigentlich alles gegeben, damit wir uns mit einem solchen fortbewegen können. Sie hat uns das Wasser gegeben, sie hat uns den Wind gegeben. Die Entwicklung menschlicher Kultur hat schließlich dazu geführt, dass wir Boote und Segel bauen bzw. herstellen können und auf dem Wasser gezielt navigieren können. Dennoch ist dieses Fortbewegen und vor allem auch das sichere Ankommen am gewünschten Ort immer wieder eine Art Wunder. Zu einer besseren Risikobewältigung haben Menschen mit Hilfe von Technik weitere Hilfsmittel erschaffen: eben auch den Außenbordmotor. Er bringt mehr Sicherheit und mehr Entscheidungsfreiheit. Aber ein passionierter Segler wird wohl kaum sein Segelboot nur noch mit dem Außenbordmotor betreiben.

Was haben nun das Segelboot und unsere Gesundheit gemeinsam? In unserem Vergleich mag das Segelboot für die Gesundheit unseres Körpers stehen, der Segler für unseren Geist und unser Bewusstsein sowie schließlich Wasser und Wind für die Naturkräfte, die unsere Gesundheit beeinflussen. Reederei und Segelschulen mögen für Krankenhäuser und Bildung stehen; der Außenbordmotor schließlich für unsere moderne Medizin samt ihrer Technik. So wie beim Segeln der Außenbordmotor durchaus wichtig und manchmal auch lebensrettend sein kann, so ist die moderne Medizin für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen unverzichtbar und als ein hohes Gut zu schätzen. Aber mit dem Blick auf die Metapher vom Segelboot wird deutlich, dass es doch überhaupt keinen Sinn macht, wenn wir in Sachen unserer Gesundheit nur noch den Außenbordmotor betätigen, obwohl wir doch ein Segelboot haben, Wind und Wasser da sind und auch unser Wissen zum Navigieren ausreicht! Dadurch, dass wir – metaphorisch gesprochen – in Sachen unserer Gesundheit nur noch auf den Außenbordmotor vertrauen, machen wir ein graziles Segelboot zu einer letztendlich teuren und störanfälligen Maschine, die nicht mehr funktionieren kann, wenn einmal der Strom ausfällt. Spätestens dann müssen wir wieder das Segeln lernen und Barfußärzte sind dann vielleicht so etwas wie ein guter Segel-Coach.

Möglicherweise liegt die zeitlose Botschaft der Heilkunst gerade in der Einfachheit des Segelns verborgen: Es ist alles da, um kranken Menschen zu helfen. Wir müssen uns nur wieder darauf besinnen: Auf eine grundlegende Haltung der liebevollen Präsenz, auf die Heilkraft der Natur und unserer Kulturen und nicht zuletzt auf das Wunder der Heilung in unserem eigenen Selbst. Es ist gut, dass wir zusätzlich durch die technische Medizin eine Art Außenbordmotor haben, aber wir sollten ihn für wirkliche Notsituationen aufbewahren und seine Kraft nicht unnütz vergeuden. Vielleicht sind wir schließlich gut beraten, nicht auf eine Notsituation (wie in dem Szenarium vom Stromausfall) zu warten, um uns wieder mit dem Wesen der Heilkunst vertraut zu machen, sondern schon jetzt Barfuß-Medizin dort praktizieren, wo es sinnvoll und möglich ist. Die Essenz der Heilkunst ist zeitlos.

Mehr zu diesem Thema finden Sie im Beitrag „Zeitlose Heilkunst als Barfußmedizin“

Quellen:

[1]Ernst Howald, Eine vorplatonische Kunsttheorie, in: Hermes 54 (1919) 187–217; hier: 187ff.
[2]Ivan Illich: Die Nemesis der Medizin. Die Kritik der Medikalisierung des Lebens. München 1995: Verlag C.H. Beck.
[3]Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile, 12
[4]G.B. Schmid: Bewusstseinsmedizin: Psychogene Heilung durch Vorstellungskraft. Suggestionen:Forum der Deutschen Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie eV – DGH Ausgabe 2013:6-40.
[5]Immanuel Kant: Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein. Herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von C. W. Hufeland. Leipzig und Wien. Bibliographisches Institut: 1824.
[6]Harald Walach und M. Loughlin: Patients and agents – or why we need a different narrative: a philosophical analysis. In: Philosophy, Ethics, and Humanities in Medicine 2018, 13:13.
[7]Online: https://www.youtube.com/watch?v=pMTl0Ct2hCY.
[8]Hinsichtlich der Kraft einer Affirmation wäre die Form „valeo“ (= Präsens Indikativ Aktiv) sinnvoller: Ich bin gesund – Ich habe Einfluss – Ich fühle mich wohl etc.